ZEIT Geschichte, Mittelalter. Neuentdeckung einer faszinierenden Welt, Heft Nr. 1, Hamburg 2010.
Von Christine Buch (Universität Heidelberg)
Die erste „ZEIT Geschichte” – Ausgabe im Jahr 2010 beschäftigt sich mit dem weit gefassten Thema „Mittelalter. Neuentdeckung einer faszinierenden Welt” und wendet sich an eine breite Leserschaft, zu der insbesondere Laien, aber auch Fachkräfte zählen.
Die Einführung gestaltet der Mediävist Johannes Fried (emeritierter Professor an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt/a.M.), der unter der Rubrik „Fundstück” die berühmte Bronzefigur auf dem Kapitol in Rom vorstellt. Jene Wölfin, die Romulus und Remus säugt und jahrhundertelang für ein antikes Standbild gehalten wurde, welches schon Cicero erwähnte, entstand nach den Forschungen Frieds erst im hohen Mittelalter! Die besondere Kunstfertigkeit – mit der die Statuette aus einem Guss gearbeitet wurde, gibt dabei Zeugnis, dass die Renaissance und damit das Aufleben des antiken Erbes bereits viel früher einsetzte als lange Zeit angenommen wurde.
Sitten, Leben und Architektur
Das berühmte Stundenbuch (um 1385/1390) des Herzogs Johann von Berry (1340-1416) in prächtigen Farbabdrucken mit kurzen und prägnanten Kommentaren zu jedem Kalenderblatt bietet dem Leser des Weiteren einen visuellen Einstieg in das Thema. Zu sehen sind nicht nur Sitten und Bräuche im Turnus der Jahreszeiten, auch das bäuerliche und höfische Leben sowie die Prinzipien der mittelalterlichen Architektur werden behandelt.
Jahrhunderte ohne Wissensdrang und Fortschritt?
Unter der Rubrik „Gespräch” findet sich im Folgenden ein Interview mit Johannes Fried. Der Historiker trägt hier einige seiner bekannten Forschungsergebnisse vor, die im Gegensatz zur immer noch weit verbreiteten Meinung stehen, das Mittelalter sei eine finstere Epoche ohne Wissensdrang und Fortschritt gewesen. So vertritt er als wichtigste Aussage die These, dass die Wiedergeburt der Wissenschaften erst aus dem mittelalterlichen Geist der Apokalypse möglich wurde. Auch die Ständeordnung entlarvt der Historiker als durchlässiger als sie bisher erscheinen mag – ein Aufstieg aus den unteren Schichten war zwar selten, aber durchaus möglich.
Erfanden Besserwisser das Mittelalter?
Das Essay „Tausend andere Jahre” von Bernd Schneidmüller, Professor an der Universität Heidelberg, mit dem Titel „Die Erfindung des Mittelalters” erklärt jene Epoche, eine Erfindung „späterer Besserwisser” (S. 29), aus einem geographischen Schwerpunkt heraus in ihrer Andersartigkeit und Fremdheit und zeichnet den Weg über die Entwicklung der modernen Nationen bis hin zu den „Kriegen, Diktaturen und Menschheitsverbrechen des 19. und 20. Jahrhunderts” (S. 38) unter den Fragestellungen „Wie begriffen die Menschen des Mittelalters die Welt?”, „Wie erklären sie sich ihre Herkunft?”, „Wie legitimieren und gestalten sie die politische Ordnung?”, „Welche Vorstellungen hatten sie von Zeit?” (S. 32) nach. Bebildert ist der Artikel dabei mit der Weltchronik des Hartmann Schedel (1440-1514) von 1493.
Wichtigste intellektuelle Erfindung ist die Universität
Achatz von Müller, Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Basel, verbindet in der Folge in seinen Überlegungen mittelalterliche Intellektualität und Spiritualität. Skizziert werden dabei die Tradierung des antiken Wissens in der Ausbildung der „sieben freien Künste” und das neue Medium Buch sowie die „wohl wichtigste Neuerung des Mittelalters und seine intellektuell bedeutendste Erfindung” (S. 45): die Universität. Der Autor macht deutlich, dass die Aufsprengung jener mittelalterlichen Erklärung der Welt aus der Bibel heraus als göttlich sanktionierte Norm zwar ein enormes Risiko barg, dennoch bereits vor Beginn der Neuzeit ein stückweit gelang. Die nachstehende Doppelseite widmet sich dem berühmten Idealplan eines Klosters aus St. Gallen, im Original abgedruckt und kurz kommentiert.
Kulturtransfer mit dem Morgenland
Außerdem wird die tragische Geschichte eines überaus berühmten Liebenden, Peter Abaelard (1079-1142), der zugleich Philosoph, Häretiker, Zweifler und Revolutionär war, von Andreas Molitor (Journalist aus Berlin) wiedergegeben. Die Religionssoziologin Hindeja Farah beschreibt schließlich den Kulturtransfer philosophischer und naturwissenschaftlicher Erkenntnisse des Morgenlandes in das mittelalterliche Europa und macht darüber hinaus deutlich, dass Europa seine arabischen Wurzeln noch weitgehend versteckt hält, diese aber anerkennen muss. Die Bedeutung der Kaiserin Theophanu (955/960-991) für den Kulturtransfer zwischen dem abendländischen und dem byzantinischen Kaiserhof, der zwar politischer Gegner, zugleich jedoch kulturelles Vorbild war, wird von der Journalistin Maren Preiß herausgestellt. Friederike Hausmann, Autorin zahlreicher Bücher zur italienischen Geschichte, thematisiert den Aufstieg und Untergang der mächtigsten Handelsmetropole des 13. Jahrhunderts und ersten Kolonialmacht Europas: Venedig.
Mittelalter als eigenständige Epoche?
Der bekannte französische Historiker Jacques Le Goff (* 1924) plädiert im Gespräch mit der ZEIT für eine Betrachtung des Mittelalters als eine eigenständige Epoche im Gegensatz zur Interpretation dieser als Beginn der Moderne. Knut Schulz arbeitet nachfolgend das Magdeburger Recht als das wichtigste Stadtrecht des Mittelalters heraus, das weite Räume Mittel- und Mittelosteuropas prägte, indem es die Freiheit des Menschen propagierte. Sein Fazit lautet: „Das moderne Staatswesen hat dem Mittelalter mehr zu verdanken als der Epoche des Absolutismus.” (S. 74)
Historische Weltreisen
Unter dem Titel „Die Wunder zweier Welten” beschreibt Eva Maria Schnurr, freie Journalistin aus Hamburg, die abenteuerlichen Reisen Marco Polos (um 1254-1324) und Rabban Bar Saumas (um 1220-1294). Ergänzend zum vorausgegangenen Bericht findet sich auf der darauf folgenden Doppelseite eine moderne Weltkarte, die neben den Reiserouten Marco Polos und Rabban Bar Saumas ebenfalls Entdeckungsreisen anderer berühmter „Seefahrer und Kaufleute, Pilger und Missionare, Diplomaten und Ritter” (S. 86) skizzieren, die zum Teil bereits im frühen Mittelalter stattfanden.
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