Mallmann, Klaus-Michael/Angrick, Andrej (Hrsg.): Die Gestapo nach 1945. Karrieren, Konflikte, Konstruktionen, Stuttgart 2009.
Von Jérôme Jussef Lenzen (Universität Heidelberg)
„Ich habe nicht gewusst, dass diese Transporte, ich selbst habe keinen angeordnet, erfolgten, um Menschen heimtückisch und grausam zu töten, ich habe das damals nicht im Geringsten ahnen können. Erst nach dem Krieg habe ich dies erfahren.” (Mallmann/Angrick 2009, S. 123.)
Was so klingt, wie der verzweifelte Versuch eines NS-Täters, welcher in Folge der Entnazifizierung nach 1945 vor Gericht stand, sozusagen der letzte Griff nach dem Silberschwall, ist in Wahrheit ein Auszug aus dem Abschiedsbrief Richard Freises. Dieser wurde nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verurteilt. Er stand zwar vor Gericht, doch dies erst im Jahr 1983, mehr als 35 Jahre nach einem ihm angelasteten Verbrechen. Verurteilt wurde der Familienvater nicht, er wählte vielmehr den Freitod, weil er sich unschuldig fühlte.
Der Diener des Staates
Richard Freise war während der Zeit des Nationalsozialismus Mitglied der Geheimen Staatspolizei (GESTAPO) und des SS-Nachrichtendienstes SD (Sicherheitsdienst), er war eine Führungskraft, jemand mit Befehlsgewalt. Deshalb wurde er in der britischen Besatzungszone nach 1945 als Unterstützer des Nationalsozialismus eingestuft. Doch Freise machte nach 1949 in der jungen Bundesrepublik Karriere. Er war keiner, der ins Ausland floh oder sich in irgendeiner Form selbstständig machte. Er tat das, was er auch vor Beendigung des Krieges getan hatte: er arbeitete für den Staat. Und er tat dies mit Erfolg, denn er schaffte es sogar, leitender Landesverwaltungsdirektor des Landschaftsverbandes Rheinland zu werden.
Unbestraft
In seiner Biographie nur einen bedauerlichen Einzelfall zu vermuten, liegt anfangs nahe. Doch die Lektüre des Sammelbandes „Die Gestapo nach 1945, Karrieren, Konflikte, Konstruktionen”, herausgegeben von Klaus-Michael Mallmann und Andrej Angrick, wird man eines Besseren belehrt. Denn Freise ist keineswegs ein Einzelfall! Die meisten Mitarbeiter der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), der nationalsozialistischen „Gesinnungspolizei”, kamen in der Nachkriegszeit ungeschoren davon.
Ich bin mir keiner Schuld bewusst
Diese Nichtaufarbeitung der Geschichte wird von den Herausgebern in drei Formen visualisiert. Nach einem Überblick, welcher in die Entnazifizierungsbemühungen der Nachfolgestaaten (Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der DDR) des Dritten Reiches einführt, werden in einem ersten Teil Einzelkarrieren von Gestapo-NS-Tätern durch verschiedene Historiker gezeichnet, um aufzuzeigen, welche verschiedenen Wege diese nach 1945 gingen, ob nun in den englischen Geheimdienst oder in einen Versicherungskonzern. Die ausgewählten Lebensbeschreibungen könnten verschiedener kaum sein. In einem zweiten Schritt richtet sich der Fokus des Sammelbandes dann auf die Institutionen, wie und wann wurde erfolgreich ermittelt, was waren die größten Hindernisse? Erfolgreiche Verfahren und Beweisketten spielen hier genauso eine Rolle, wie die gescheiterten polizeilichen Ermittlungen, welche mit der erschreckenden Erkenntnis aufwarten, wie nah man den Tätern teilweise kam, ohne sie dann zu überführen.
Im dritten und abschließenden Teil „Konstruktionen” wird in der Folge der Bogen auf die Reflektion, sei es von Tätern, Opfern, der Gesellschaft oder den Medien gezogen. Der wissenschaftliche Diskurs, mündend in der Frage nach dem „Warum?”, steht hier im Mittelpunkt: „Die Tatsache, dass hoch gebildete Männer aus dem Land von Goethe und Schiller, Lessing und Kant reihenweise zu Mördern geworden waren” (Mallmann/Angrick 2009, S. 292) verlangt nach einer Erklärung. Diese suchen die Autoren in Zeitzeugen-Aussagen, welche zumeist auf die Verdrängungsfloskel „Ich bin mir keiner Schuld bewusst” hinauslaufen.
Nachsicht mit Tätern
Die Aktualität dieses Themas „Was geschah mit NS-Verbrechern nach 1945?” erlebt derzeit mit dem Prozess gegen John Demjanjuk (* 1920) in München einen weiteren, vielleicht letzten Höhepunkt. Auch wenn das mediale Interesse nicht mehr die Ausmaße des Eichmann-Prozesses 1961 erreicht, taugt der Sammelband dazu, den Diskurs neu zu eröffnen. Die Vergangenheit von Gestapo-Mitgliedern und nicht höheren Funktionären, zeigt einen neuen Blickwinkel auf, der sich mehr den kleinen Rädern im Getriebe des Nationalsozialismus widmet und gleichzeitig erschreckend erkennen lässt, welche große Nachsicht eindeutig schuldigen NS-Tätern zu Gute kam.
Doch so interessant die Vertiefung in den Bereich der Gestapo auch sein mag, so sehr schränkt sich das Werk ebenso ein. Es fehlt der Vergleich zu anderen Feldern des NS-Regimes. Außerdem geht die erwartete Auseinandersetzung mit Österreich und der DDR nach einer vielversprechenden Einleitung unter. Allerdings schaffen es die Herausgeber, eine erschreckende Erkenntnis in die Erinnerung zurückzuholen: Die Mörder sind, wenn sie noch nicht verstorben sind, als Hochbetagte immer noch unter uns.
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