Das Vorhaben, die vorübergehende Auszeit dieses Blogs wie Florian mit täglichen Gastbeiträgen zu überbrücken, wäre wohl etwas vermessen gewesen. Nichtsdestotrotz nach langer Stille hier ein ebenso interessanter wie amüsanter Gastbeitrag. Das folgende Interview gab Dr. Hans-Werner Bertelsen – meinen Leserinnen und Lesern vielleicht noch von seinem dramatischen “Insiderbericht” in Erinnerung – dem Magazin der Kassenzahnärztlichen Vereinigung Bayerns, kzvb TRANSPARENT. Eine gekürzte Fassung ist dort im Juli erschienen, als Kritisch-gedacht-LeserIn kommen Sie natürlich in den Genuss der ungekürzten Fassung, die mir Dr. Bertelsen freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.
======================================
Wer Recht hat, heilt
Frischzellentherapie, Magnetfeldtherapie, Homöopathie & Co. haben mittlerweile auch in der Zahnheilkunde Einzug gehalten. Dr. Hans-Werner Bertelsen setzt sich kritisch mit diesen Behandlungen, die sich ganzheitliche, alternative oder naturheilkundliche Therapien nennen, auseinander. Dr. Michael Gleau, KZVB-Referent für Öffentlichkeitsarbeit, sprach mit dem Bremer Zahnarzt.
Gleau: Der Begriff „ganzheitliche
Zahnheilkunde” wird derzeit geradezu inflationär verwendet. Wie kam es dazu,
dass das so ein Modebegriff geworden ist?
Bertelsen: Zunächst einmal ist es ein Marketing-Instrument. Oftmals verbunden mit viel heißer Luft. Der Begriff suggeriert, alle anderen Kollegen würden „halbheitlich” arbeiten. Frei nach dem Motto: „Papperlapapp. Jetzt machen Sie schon endlich den Mund auf!” Dieses Modell ist aber seit mehr als 70 Jahren überholt und funktioniert nicht mehr. Sie müssen mit den Menschen sprechen, um ihre Bedürfnisse zu erkennen.
Gleau: Eigentlich ist ganzheitliches Denken etwas Gutes. Das macht jeder Zahnarzt, denn der Zusammenhang zwischen Mundgesundheit und allgemeinem Gesundheitszustand ist ja inzwischen ziemlich gut belegt. Wo endet für Sie seriöse ganzheitliche Zahnheilkunde und wo beginnen Sie skeptisch zu werden?
Bertelsen: Ich unterstelle, dass die allermeisten Kolleginnen und Kollegen ganzheitlich arbeiten und sich ihrer Verantwortung bewusst sind. Wenn Patienten überlastet sind, werden keine großen Sanierungen gemacht. Jeder verantwortungsvolle Kollege spricht mit seinen Patienten – auch und gerade über Allgemeinerkrankungen. Für viele medizinische Disziplinen ist ein Rat aus zahnmedizinischer Sicht wichtig. Denken Sie an die Kardiologie oder die Orthopädie. Ganz zu schweigen von der modernen Transplantationschirurgie. Jede Woche bekomme ich mehrere Konsilpatienten aus anderen Disziplinen. Da braucht kein Rad neu erfunden werden. Wir Zahnärzte arbeiten längst interdisziplinär und somit ganzheitlich. Der Rubicon wird überschritten, sobald Menschen unter dem Etikett der „Ganzheitlichkeit” Schaden zugefügt wird und z.B. Angst-Projektionen benutzt werden. Etwa bei Tumor-Patienten oder chronisch kranken Kindern. Zahnärztekammern haben hier Vorbildfunktion und sollten sich keiner Mode anschließen. Sie sollten keine Kurse „Analoges Denken in der digitalen Praxis” oder andere Kurse mit unseriösen Inhalten anbieten, nur weil „eine Nachfrage besteht”. Jedes Angebot hat Triggerfunktion und erzeugt wiederum eine neue Nachfrage. Es ist ein Angebot aus Gefälligkeitsmotiven, welches immer einen Bumerang enthält. Oder anders ausgedrückt: Wenn im Wartezimmer weiß-blau-gesiegelte Jodeldiplome hängen, braucht man sich nicht zu wundern, wenn es über 300 Sekten in Bayern gibt. Das sehe ich streng ganzheitlich. Die Frage nach der der Trennung von seriöser und unseriöser ganzheitlicher Zahnheilkunde kann jeder leicht beantworten. Unseriöse Verfahren finden Sie auf www.psiram.com unter „Alternativmedizinische Zahnheilkunde”. Die Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Komplettheit. Ich habe diese überflüssigen Verfahren benannt als „Mittels unseriöser Methodik, psychologisch irreführende, tricksende Zahnmedizin”, oder kurz: M.U.M.P.I.T.Z. Eine Gesellschaft, die vorgibt ganzheitlich orientiert zu sein, lässt im Übrigen die Zähne ihrer alten Menschen nicht unbeachtet in den Heimen verrotten. Das ist sehr schlecht für das eigene Karma und rächt sich spätestens bei der nächsten Reinkarnation.
Gleau: Wie kam es dazu, dass Sie sich kritisch mit alternativen Behandlungsmethoden auseinandersetzen?
Bertelsen: Meine eigenen Erfahrungen in einer sogenannten Alternativzahnmedizinischen Praxis. Ich kam aus dem Staunen nicht heraus, welcher abenteuerliche Unsinn geglaubt und dann auch noch teuer verkauft wird. Die psychologischen Mechanismen sind simpel kaskadenförmig strukturiert. Ich habe diese Mechanismen beschrieben. Wenn ich jetzt beobachte, dass Krankenkassen lieber 100.- Euro für wirkfreien Unfug bezahlen, in der Hoffnung, damit die ultimative Vermeidungsstrategie gegen den Einsatz invasiver Diagnostik gefunden zu haben, dann ist das ein verhängnisvolles, grundfalsches Signal. Ehrlicher wäre eine jährliche Intensivberatung pro Patient. Diese darf ruhig 100.- Euro kosten. Dann hätte man die Nachfrageseite zum großen Teil zufrieden gestellt. Es existiert auf Seiten der Patienten ein ungeheurer Informations- und Gesprächsbedarf, der nur deshalb nicht gestillt wird, weil es für eine Beratung 8.- Euro pro Quartal gibt. In einer Welt, die sich fortschrittlicher Kommunikation rühmt, ein trauriger, mittlerweile chronifizierter Skandal. Meine Forderung: Gebt allen Versicherten einen Intensivberatungsscheck im Wert von 100.- Euro und schon schwindet die Nachfrage nach unseriösen Ausweichangeboten!
Gleau: Was war das bisher skurrilste Angebot, das Sie bisher gesehen haben?
Bertelsen: Die gesamte esoterische Palette ist skurril. Es gibt allerdings Steigerungen. Meine persönlichen Erfahrungen decken sich mit einem Hilferuf aus Bayern. Als Reaktion auf meinen „ZM”-Artikel bekam ich eine Mail von einer Kollegin aus Bayern, die von Ihrer erkrankten Tochter berichtet. Diese hatte gerade ihr Studium abgeschlossen und leidet unter einem Hirntumor, einem Astrozytom. Ein Zahnkollege aus München diagnostizierte
„Restostitis” und wollte den Kiefer an mehreren Stellen auffräsen. Er sagte im Beisein der Tochter: Es sei Eile geboten, man müsse heute noch zur Tat schreiten. Es sei ein Wunder, dass sie noch lebe! Sie werden mir rechtgeben: Solche Kollegen gehören wegen Eigen- und Fremdgefährdung zwangseingewiesen. Die Kollegin hat das Spiel durchschaut und hat die Praxis sofort verlassen. Ich kenne solche Geschichten und weiß: dieser Wahnsinn hat Methode. Aber auch in Bremen haben wir einen „Spezialisten”, der vor 20 Jahren Amalgamfüllungen mit dem Daumen modellierte. Heute verkauft er chronisch Kranken Infusionstherapien teuer und erzählt Ihnen, das Gift werde „ausgeschwemmt”. Das einzige, was hier ausgeschwemmt wird, ist das Geld aus der Geldbörse.
Gleau: Befürworter alternativer Behandlungsmethoden behaupten gern: Wer heilt, hat Recht. Was sagen Sie dazu?
Bertelsen: Gestatten Sie mir zunächst einmal einen Blick auf die Zielgruppen. Da ist die riesengroße Gruppe der larviert depressiven Frauen zwischen der 5. Und 7. Lebensdekade. Sie stellen die größte Gruppe auf der Nachfrageseite. Viele davon fühlen sich im Stich gelassen und sind emotional derart stark vereinsamt, dass allein schon der freundliche
Arzt-Kontakt eine enorm heilende Wirkung zeigt. Ich habe es oft erlebt, wie Tränen flossen bei der sogenannten „Cranio-Sacralen-Therapie”, einer kruden Umschreibung für „Dem Menschen Aufmerksamkeit widmen”. Die andere große Gruppe sind die Tumorpatienten und chronisch kranken Kinder, für die im laufenden Medizinbetrieb viel zu wenig Zeit ist. Die Crux, die aus der völlig unterrepräsentierten Psycho-Onkologie entsteht, wird häufig in die „ganzheitlichen” Zahnarztpraxen getragen und hier oftmals streng gewinnorientiert genutzt. Es wird dann erzählt, das Material sei krankmachend und böse. Aus dem Fundus von 20000 zahnmedizinischen Materialien werden rein zufällig nur fünf oder zehn zielgerichtet „schwingungsmäßig getestet” und „das richtige” hervorgezaubert. Mit dieser tumben Wünschelrutenmethodik diskreditiert man gleichzeitig seriös arbeitende Umweltmediziner, die detektivisch nach Unverträglichkeiten suchen. Ansonsten hilft Voltaire: „Das Geheimnis der Medizin besteht darin, den Patienten abzulenken, während die Natur sich selber hilft.”
Gerne zitiere ich in diesem Zusammenhang auch Prof. Edzard Ernst: „Wer Recht hat, heilt!”
Gleau: Mir ist aufgefallen, dass Sie beim Umgang mit alternativen Behandlungsmethoden überraschend humorvoll auftreten. Nehmen Sie das Phänomen damit nicht auf die leichte Schulter?
Bertelsen: Sie sind Opfer einer klassischen Fehlwahrnehmung. Wir Norddeutschen besitzen konstitutionell bedingt keinen Humor – im Gegensatz zu euch Bayern. Ich bin bekennender Gerhard-Polt-Fan und bin bemüht, kein einziges Ringsgwandel-Konzert im Norden zu verpassen. Die besten Witze der Nordhalbkugel hörte ich bei Fortbildungen von Prof. Gutowski in München. Man lacht und ganz nebenbei wird man ein besserer Zahnarzt. Genial seid ihr in Bayern! Aber mal im Ernst: Als ich mit den ausgewiesenen Fachleuten der
Ganzheitsfraktion, allesamt Zahnärzte und Heilpraktiker, im fachlichen Austausch stand und die hanebüchenen Antworten zu meinen Anfragen las, steigerte sich mein Lachanfall bis zum imperativen Harndrang. Der „fachliche Austausch” war der „Süddeutschen Zeitung” einen schönen Bericht wert mit dem Titel „Können Zähne fremdgehen?”. Ein echter Comedy-Klassiker. Die Herren (warum eigentlich immer nur Männer?) pflegen im fachlichen Austausch das Prinzip der asymmetrischen Informationsverteilung zu bevorzugen, ganz im Gegensatz zur gewohnten Umgehensweise in der seriösen Medizin. Stets stellt man sich über alle anderen! Der Ablauf war bei allen Herren kongruent. Sobald ich mich als Insider zu erkennen gab, der weiß, wo sich beim Hasen die Rücklichter befinden, brach der Kontakt jäh ab. Humor ist gerade im Umgang mit diesen Herren enorm wichtig. Humor kann helfen, Transparenz zu schaffen. Das Lachen bleibt Ihnen allerdings im Halse stecken, wenn Sie erleben, dass es in Deutschland möglich ist, eine Patientin auf dem Zahnarztstuhl zu töten und einfach weiterzuarbeiten. Bussiness as usual. Lesen Sie meinen Erfahrungsbericht. Dort gab es eine alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, die nach einer Injektion in der Praxis verstarb. https://www.scienceblogs.de/kritisch-gedacht/2012/02/insider-bericht.php
Aber das ist nicht alles. Es steht noch viel mehr auf dem Spiel. Die Glaubwürdigkeit unseres Berufsstandes ist einer massiven Bedrohung ausgesetzt. Wenn Sie einem Kind eine Intensivzahnpflege empfehlen, und sie bekommen von der Mutter gesagt, das Unterfangen sei deshalb zwecklos, weil das Kind laut Aussage der Homöopathin ein „Sulfur-Typ” sei, dann läuft das Fass gewaltig über. „Sulfur-Typen” sind laut esoterischer Konstitutionslehre „von
Natur aus schmutzig”. Ein desolates Gebiss ist also mit allen Konsequenzen schicksalhaft
vorhergesehen. Hier brauchen wir schleunigst deutlichen und massiven Widerstand von Seiten der BZÄK, bevor die Mannschaft in Berlin von einem spirituellen Zirkel im Handstreich übernommen wird. Das können wir in unseren Praxen nicht alleine ausbaden. Jedes desolate Milchgebiss verbraucht enorme Zeitressourcen und verursacht auf lange Sicht enorme Kosten.
Gleau: Sollte man Behandlungen, die nicht im Geringsten evidenzbasiert sind, nicht einfach verbieten? Dann hätte der Spuk doch ein schnelles Ende.
Bertelsen: Nein. Niemals! Ich lasse mir zu gerne aus der Hand lesen. Ein Verbot schränkte das unterhaltsame zwischenmenschliche Miteinander zu sehr ein. Meine Forderungen sind viel bescheidener. Drei kleine Dinge würden für den Anfang schon ausreichen, die Kundschaft gegen ungewollte Esoterikattacken zu schützen:
1. Man sollte die Kundschaft aufklären, sobald der wirksamkeitsgeprüfte Bereich verlassen wird und sie somit keinen Anspruch auf faire gerichtliche Klärung haben, weil im Bereich der MUMPITZ keine Standards definiert sind. Die geneigte Kundschaft sollte dieses durch eine Unterschrift verbindlich erklären. In der Implantologie ist dieses Procedere längst Alltag. Wer unterschreibt, braucht sich hinterher nicht beklagen und vor allem nicht zu schämen. Jeder darf schließlich sein Geld Hütchenspielern geben oder auch anonym verschenken. Das steht
mündigen Bürgern frei.
2. Man sollte eine standardisierte Begrüßungsformel einführen. Statt „Guten Tag! Wie geht es Ihnen heute?” sollte es klar verständlich heißen: „Heeeereinspaziert!” Damit ist jedem klar: Esotime! Jetzt gibt es Jahrmarktsmedizin!
3. Die weiße Berufskleidung sollte getauscht werden gegen Frack und Zylinder. Sonst ist die Gefahr der Verwechslung für unsere Patienten einfach zu groß.
Gleau: Vielen Dank für das Gespräch!
Bertelsen: Ich danke Ihnen sehr für Ihre Bereitschaft, meine Kritik zu thematisieren!
Kommentare (44)