Der Vorteil eines langen Postingtitels ist der, dass man das Thema des Postings schon im Titel erklärt bekommt. Das spart mir eine längere Einleitung und meine Leserinnen und Leser kommen auf direktem Weg zu dem folgenden Gastbeitrag von Gastautor Dr. Hans-Werner Bertelsen.
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Das große Schweigen in der Medizin ist nicht allein. Es wird begleitet von Handlungen. Handlungen, die zwar bei Lichte betrachtet nicht immer wirklich nötig sind, aber doch durchaus lohnenswert. Fragen wir den Kardiologen, ob er sich lange mit dem diagnostischen Patientengespräch aufhält, oder man lieber gleich eine Herzkatheteruntersuchung initiiert. Fragen wir den Röntgenologen, ob die Aussagekraft eines Computer-Tomogramms bei jeder klinischen Fragestellung die conditio sine qua non darstellt, oder ob wir unter Einsparung erheblicher Strahlenbelastungen schadlos französische Zahlen anstreben können, wenn es um die Häufigkeit des Computer-Tomogramms geht. Fragen wir den Hausarzt, ob er jede Medikation auch seinen Familienmitgliedern zumuten würde, oder ob ein Rezept aus dem dicken roten Buch manchmal nur dazu dient, ein Gespräch zu beenden. Eine von vielen engagierten Medizinern und Pharmakologen seit Jahren geforderte „Positivliste“ wird von der betriebswirtschaftlich denkenden Pharmaindustrie erfolgreich verhindert. Schließlich könnte es peinlich werden, wenn alle meine Nachbarn die gleichen Pillen verschrieben bekommen haben wie ich.
Privat versichert müsste man sein, dann könnte man mit dem Arzt seines Vertrauens endlich reden. Der Doktor würde einem sogar zurückgelehnt gerne zuhören, weil er sich von der anstrengenden Fließband-Arbeit selbst mal erholen muss. Als Privatversicherter bekäme ich dann eine Rechnung mit dem lustigen Kürzel Ä 34 und sehr gerne mit 61,22 Euro eine äußerst wirksame Dosis Sprechende Medizin in Rechnung gestellt. Das Kürzel Ä 34 würde besagen, dass mein Hausarzt sich mit mir, dem Privatversicherten, mal eine halbe Stunde Zeit gegönnt und dabei ein kommunikativer Austausch stattgefunden hätte.
Als Gesetzlich Versicherter sieht die Welt ganz anders aus und ist mit vielen und oftmals langen Wegen verbunden. Als Gesetzlich Versicherter muss ich 17mal zum Arzt gehen, damit ich von ihm eine halbe Stunde Gesprächszeit erhalte, weil ich nach zwei Minuten einen rosa Zettel erhalte, eine Art Austrittskarte für Gesetzlich Versicherte. Für Gesetzlich Versicherte ist das ärztliche Gespräch wertlos. Mehr als zwei Minuten bezahlt die Gesetzliche Krankenkasse dem Arzt leider nicht an Gesprächszeit: Es sind unglaublich lächerlich anmutende 9.- Euro. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die Pizza beim Italiener kostet mehr als ein mitunter lebenswichtiges Gespräch zwischen Gesetzlich Versichertem Patienten und Arzt. Zwar wird niemand ernsthaft behaupten, dass man einen Arzt für 9.- Euro länger als zwei Minuten beanspruchen darf, betragen doch allein die Betriebskosten für eine Praxis weit mehr als 120.- Euro. Aber die Frustration über das Nicht-gehört-werden und über die scheinbare Ignoranz des Arztes sitzt wie ein tiefer Stachel, weil die monatlich abgebuchten Beträge für die Gesetzliche Krankenkasse eben nicht 9.- Euro betragen, sondern um den Faktor 50 höher anzusiedeln sind.
Der kommunikative Austausch zwischen Gesetzlich Versichertem Patienten mit seinem Arzt wird nur dann betriebskostendeckend bezahlt, wenn er den Boden der Wissenschaftlichkeit, der Rationalität und der logischen Plausibilität verlässt. Der Name des dazugehörigen Geschäftsmodells lautet: Homöopathie! Sobald ich mich als Patient auf dieses nachweislich mitunter sehr gefährliche Spiel mit den putzigen Zuckerkugeln einlasse, habe ich meinem Arzt den Zutritt in das finstere Reich der lukrativen „Selektivverträge“ erteilt. Die Selektivverträge ermuntern die teilnehmenden Krankenkassen, große Geldpakete an die Kassenärztliche Vereinigung zu senden, damit die Zuckerkugelgespräche auch satt honoriert werden. So erhält mein Doktor nicht mehr lächerliche 9.- Euro, sondern das Zehnfache für eine Anamnese: 90.- Euro. Damit werden drei Fliegen mit einer Klappe geschlagen:
- Mein Arzt bekommt seine Betriebskosten refundiert und auch noch sein Gespräch bezahlt.
- Meine mit trockenen und langweiligen Statuten eingezäunte Krankenkasse kann „einen auf dicke Hose machen“, weil sie sich mit meinem sauer verdienten Geld bei der Finanzierung von Mumpitz marketingdienlich lässig aus dem Fenster hängt und damit ihren Umsatzkuchen schön dick aufblasen kann.
- Ich als Gesetzlich Versicherter muss nicht 17 Mal zum Arzt gehen wenn ich eine halbe Stunde mit ihm reden will, sondern kann das mit einer Anreise erledigen und dabei noch die Umwelt schonen.
Die Zuckerkugeln rühre ich mir lieber in den Kaffee.
Damit dieses System, bestehend aus Sprachlosigkeit, überflüssiger Diagnostik und Therapie, auch weiterhin bestehen bleibt, dafür sorgt neben der hohen Anzahl der Aber- und Wundergläubigen eine heilige Allianz aus Politik, Versicherungsmathematikern und Finanzjongleuren. Sogar der Vorstand der Barmer Ersatzkasse (BEK) verrät angesichts der hohen Marketingkraft die im Sozialgesetzbuch fixierten Prinzipien von „Ausreichend, Wirtschaftlich und Zweckmäßig“, um sie durch die Homöopathie-assoziierten Attribute „Abergläubisch, Beliebig und Gefälligkeitsorientiert“ zu ersetzen.
Der Bundesgesetzgeber ist hier aufgerufen, der Sprechende Medizin endlich den Stellenwert zuzubilligen, der ihr gebührt und vieles aus dem Bereich der “besonderen Therapierichtungen” abzuschaffen. Alles gehört auf denselben Prüfstand. Wenn Leistungen, die heute der „Alternativmedizin“ zugeordnet werden, ein vernünftiges Nutzen-Schaden-Verhältnis haben, gehören sie in den allgemeinen Leistungskatalog. Ungeprüft jedoch, gehören sie weder durch die künstlich anmutende Legitimation von “Selektivverträgen” in den großen Topf, noch auf eine Extra-Rechnung der von hohen Beiträgen ohnehin schon arg gebeutelten Solidargemeinschaft der Gesetzlich Versicherten.
Was passiert denn aber nun, wenn die Homöopathie endlich nicht mehr von den Gesetzlichen Kassen finanziert würde?
- Landärzte fänden wieder einen Nachfolger
- Ambulanzen in den Kliniken wären entlastet
- Invasive Diagnostik und überflüssige Operationen würden reduziert
- Medikamentenverbrauch würde reduziert
- Homöopathie wäre endlich überflüssig und Märchenerzähler hätten wieder Konjunktur
Bevor die Sprechende Medizin aufgewertet wird, müssen einige Informationen endlich offengelegt werden. Es gilt abzuklären, wieviel Hunderte von Millionen Euro im Bereich der „Selektivverträge“ ausgeschüttet werden, damit eine bessere – weil esoterikfreie – Medizin gestaltet werden kann. Meine Forderung seit vielen Jahren: „Intensivberatungen“ auch für Gesetzlich Versicherte Patienten. Zum Beispiel bei Tumorleiden oder bei Polymorbidität.
Der kommunikative Austausch darf nicht länger Privileg der Privatversicherten bleiben. Ein ausführliches Gespräch muss zukünftig ohne „esoterische Verpackung“ möglich sein.
Die Patienten haben es verdient.
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