Vorbemerkung
Dieser Blog nennt sich „Das Universum nebenan“. Eigentlich verband ich ursprünglich die Absicht, über Themen aus den Bereichen Astronomie und Physik allgemeinverständlich zu schreiben. Doch wurde mir in den letzten Monaten klar, in denen die Corona-Pandemie das alles beherrschende Thema war, dass nicht nur in der Physik über Paralleluniversen geredet wird, sondern auch Teile der Bevölkerung in ihren eigenen Paralleluniversen leben. Als Naturwissenschaftler war ich besonders darüber bestürzt, dass auch so mancher Mediziner mit zum Teil völlig den wissenschaftlichen Erkenntnissen widersprechenden Argumenten, die Pandemie und Gefährlichkeit von COVID19 leugnete. Als dann die Querdenker-Bewegung lautstark Verschwörungsmythen verbreitete, die leicht als Lüge oder Falschmeldungen zu entlarven waren, fragte ich mich, wie es sein kann, dass sich ihre Anhänger den tatsächlichen Fakten teilweise vehement verweigern. So fing ich vor einigen Monaten an, mich näher mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen. Ich musste dabei feststellen, dass es sich hierbei um eine äußerst komplexes, facettenreiches Thema handelt, dass kaum in einem Blog umfassend behandelt werden kann. Mir wurde dann schnell klar, dass ich es nicht in seiner ganzen Breite und Tiefe behandeln kann. Deshalb mag der Leser manche Beispiele und Aspekte vermissen. Aber dieser Blog ist schon sehr lang. Auf Papier umfasst er 15 Seiten. Wegen des großen Umfangs habe ich mich entschlossen, den Blog in mehreren Teilen zu veröffentlichen.
Dennoch möchte ich hier die wichtigsten Punkte vorstellen, die meiner Ansicht nach maßgebend für die Verbreitung von Verschwörungsmythen sind. Als Physiker und Astronom versuche ich deshalb an einigen Beispielen aus dem physikalischen Umfeld die Beweggründe der Anhänger von Verschwörungstheorien zu beleuchten.
Ein altes Phänomen mit neuen Möglichkeiten
Verschwörungsmythen und Desinformationskampagnen sind kein neues Phänomen, sondern existieren schon seit Jahrhunderten. Manchmal, insbesondere heute, wo die technischen Möglichkeiten des Internets zur Verfügung stehen, geht es dabei wie in der Corona-Pandemie buchstäblich um Leben und Tod. Seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie haben Verschwörungsmythen, andere sagen Verschwörungstheorien, Hochkonjunktur. Lautstarke laufen verschiedene Gruppen gegen die politischen Maßnahmen Sturm. Wissenschaftler sehen sich zum Teil heftigen und persönlichen Angriffen von Corona-Leugnern und Maskengegnern ausgesetzt.
Man könnte Verschwörungsmythen schnell als Spinnereien abtun, aber so einfach ist es nicht. Verschwörungsmythen treten wohl überall in unserer Gesellschaft und sind ziemlich facettenreich. Sie zeigen sich in vielen verschiedenen Ausprägungsformen. Manchmal sind sie nur auf ein gesellschaftliches Umfeld beschränkt, andere zielen auf mehrere Aspekte in unterschiedlichen Bereichen.
Aber auch im Bereich der Naturwissenschaften machen sich im Internet immer wieder merkwürdige Meinungen breit, die die anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnisse infrage oder sogar in Abrede stellen.
Daraus ergeben sich mehrere Fragen: Wie kann es sein, dass sich Verschwörungsmythen im wissenschaftlichen Umfeld so hartnäckig halten? Wie stark können Verschwörungsmythen die Gesellschaft schädigen? Wie soll man damit umgehen? Sollten nicht alle, die wissenschaftliche Gemeinschaft und Wissenschaftsjournalisten, sich erheben, um Verschwörungsmythen aufzudecken und zu bekämpfen? Wie muss sich Wissenschaftskommunikation ändern, um dieser Herausforderung zu begegnen? Und was sind die besten Strategien? Wie sollte die Gesellschaft und der Einzelne darauf reagieren?
Um diese nicht neuen Fragen zu beantworten betrachte ich im Folgenden einige pseudowissenschaftliche Vorstellungen im naturwissenschaftlich-physikalischen Umfeld, die damit verbundenen Problemfelder und stelle mögliche Ansätze für Gegenmaßnahmen vor. Auf die in der aktuellen Corona-Pandemie kursierenden Mythen werde ich nur insoweit eingehen, wie sie für das Verständnis des Phänomens Verschwörungsmythen gegen Wissenschaft wichtig sind.
Verschwörungsmythen einst und jetzt
Meine erste engere Begegnung mit Vertretern pseudowissenschaftlicher Ansichten hatte ich kurz nach Abschluss meines Physikstudiums, 1976. Damals nahm ich an der Jahrestagung der Deutschen Physikalischen Gesellschaft teil. Dort trat jemand auf, der das gängige Modell des Photons nicht akzeptieren wollte. Er propagierte stattdessen ein Konzept von ineinander wirbelnden Ringen. Das Ganze klang für mich ziemlich schräg und verwirrend, aber andere Teilnehmer kannten den Redner schon und betrachteten seinen Beitrag als unterhaltsame, wenn auch sinnlose Einlage.
Das Internet gab es noch nicht. Wissenschaftler wurden mit solchen bahnbrechenden Erkenntnissen nur selten und dann meist schriftlich konfrontiert. In zehn Jahren bekam ich nur von einer einzigen Person mehrfach Post, in der sie ihre „Theorien“ vorstellte. Das machte den Umgang mit diesen Informationen ziemlich einfach: Zuerst versuchte man, dem Briefschreiber eine begründete Antwort zu geben und als das nicht half, gab es immer noch die Ablage „P“ – wie Papierkorb.
Doch heute ermöglicht das Internet es jedem, seine Meinung zu veröffentlichen. Das ist der große Unterschied zu früher, als solche Beiträge sich praktisch nicht ausbreiten konnten, ohne dass ihre Verfasser dafür einen mehr oder minder großen Aufwand treiben mussten. Heute geht das praktisch kostenlos und schnell. Deshalb ist es wenig erstaunlich, dass die Legitimation der Wissenschaft wesentlich häufiger und heftiger angezweifelt bzw. bestritten und der Begriff Experte bei einigen Mythenanhängern oder Mythenprotagonisten sehr individuell nach der persönlichen Vorliebe vergeben wird. Laien widersprechen Fachleuten, als würden sie das Thema besser als die anerkannten wissenschaftlichen Experten verstehen, auch wenn sie ihren Abschluss nur an der Universität Google gemacht haben.
„Meine Erkenntnisse und meine Entdeckung sind Wissenschaft!“
Manche stellen einfach irgendwelche Behauptungen auf, die auf äußerst geringen physikalischen Kenntnissen beruhen, andere wiederum mit technisch-wissenschaftlichem Hintergrund geben sich dagegen richtig Mühe, um eine Theorie aufzustellen. Sie selbst halten ihre Ergebnisse für Wissenschaft.
Ich sehe das Problem zum Teil darin, dass im Netz alle Informationen nebeneinander stehen: geprüfte Fakten neben Verschwörungsmythen und Falschmeldungen usw. So gibt es die international aktive Gruppe der Flacherdler. Andere wiederum glauben, wir leben in einer Hohlwelt oder vertreten die Ansicht, alle Sterne wären von Schwarzen Löchern herausgeschleudert worden. Solche und andere pseudowissenschaftliche Mythen machen sich heutzutage mehr oder weniger penetrant in vielen Internetforen breit.
Auffallend ist, dass Verschwörungsmythen gegen Kritik gefeit sind. Ihr Prinzip ist recht einfach: Die klassischen Medien, Politiker, Wissenschaftler und wissenschaftliche Einrichtungen würden mit politischen und/oder wirtschaftlichen Mächten unter einer Decke stecken. Alle, die diesen folgen, wären naive Schafe. Wer dagegen zu den Erleuchteten gehören will, findet die „Wahrheit“ bei unabhängigen Quellen – was immer das bedeutet – und durch den Austausch mit gleichgesinnten in einschlägigen Foren im Internet. Das trifft besonders für gesellschaftspolitische Verschwörungsmythen zu.
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