Um die Problematik an einem konkreten Beispiel deutlich zu machen, werfen wir einen Blick auf einen Verschwörungsmythos, der nicht neu ist, aber in den letzten Jahren immer mehr Anhänger gewinnen konnte.
Die Erde ist eine Scheibe
Fans von Terry Pratchetts Scheibenweltromanen sind von den dortigen sonderbaren Verhältnisse fasziniert, wissen aber genau, dass es sich hierbei um eine reine Fiktion und eine besondere Form von Humor handelt. Aber selbst im 21. Jahrhundert gibt es Mitmenschen, für die unsere Erde ebenfalls eine Scheibe ist und die Kugelgestalt ablehnen. Man kann sich darüber lustig machen, aber die Zahl der Anhänger der Theorie der Flacherde nimmt sogar seit einigen Jahren zu.In den Vereinigten Staaten und anderen Ländern finden inzwischen sogar internationale Konferenzen der Flacherdler statt, an denen bis zu einigen hundert Personen teilnehmen.
Deshalb möchte ich daran die zugrundeliegenden Probleme mit solchen pseudowissenschaftlichen Vorstellungen darstellen.
Zum besseren Verständnis schauen wir uns einmal die Entwicklung unserer heutigen Vorstellung von der Gestalt der Erde an.
Schon im Altertum gab es überzeugende Beweise, dass die Erde eine Kugel ist. Dem griechischen Philosophen Aristoteles (384 – 323 v. Chr.) fiel auf, dass er neue Sternbilder sah, als er nach Ägypten reiste. Ein anderer griechischer Philosoph, Eratosthenes, berechnete im dritten vorchristlichen Jahrhundert den Umfang der Erde mit erstaunlicher Genauigkeit, indem er die Höhe der Sonne zur Mittagszeit in Alexandria und Assuan maß. Um das 9. Jahrhundert n. Chr. gelangen islamischen Gelehrten genauere Messungen, bevor europäische Seefahrer im 16. Jahrhundert um die Erde segelten. Heute haben wir tausende von Bildern der Erde, die aus dem Weltraum aufgenommen wurden und die Erde als Kugel zeigen.
Welche Beweise braucht es noch? Wie sind Flacherdler gestrickt, dass sie von der Kugelgestalt der Erde nicht überzeugt sind?
Die heutige Bewegung der Flacherdler geht wohl auf einen Artikel des englischen Erfinders und Schriftstellers Samuel Rowbotham (1816–1884) aus dem Jahre 1864 zurück. Nach seinen Vorstellungen ist die Erde eine flache, unbewegliche Scheibe, deren Zentrum am Nordpol liegt. Die Antarktis ist demnach eine Wand aus Eis, die die Scheibe umgibt und verhindert, dass die Ozeane leerlaufen.
Wie bei jeder esoterischen Bewegung gibt es unter den Flacherdlern verschiedene Gruppen, die unterschiedliche Modelle vertreten. Manche meinen, dass sich die flache Erde mit samt ihrer Atmosphäre wie in einer Schneekugel innerhalb einer Halbkugel befindet. Somit kann niemand über den Rand fallen. Tag und Nacht erklären die meisten Anhänger der Idee damit, dass sich die Sonne um den Nordpol bewegt und dabei die Oberfläche der Erde wie ein Scheinwerfer beleuchtet. In den Vereinigten Staaten glauben mache Anhänger, dass Sonne und Mond nur einen Durchmesser von 50 Kilometern besitzen und die scheibenförmige Erde in einer Höhe von 5.500 Kilometern umkreisen. Darüber befinden sich die Sterne an einem sich drehenden Dom. Die Schwerkraft erklären viele damit, dass die ganze Scheibe mit 9,8 m/s2 beschleunigt wird.
Als Physiker greife ich mir an Kopf und frage mich, wie intelligente Menschen heutzutage solche Vorstellungen vertreten können.
Asheley Landrum, eine Psychologin von der Texas Tech University in Lubbock, die 2018 an der Flat Earth International Conference in Denver teilnahm, meint, dass die Flacherdler authentisch sind und nicht herumalbern. „Falls sie trollen, sind sie sehr gute Schauspieler“, sagt sie. „Wir sprachen mit mehr als 90 Mitgliedern der Flach-Erde-Gemeinschaft, und sie sind alle sehr aufrichtig in ihren Überzeugungen“. Bei der Veranstaltung in Denver gab es u.a. Vorträge über „Mit ihrer Familie und ihren Freunden über die flache Erde sprechen“, „Lügen der NASA und andere Weltraumlügen“ und „14+ Wege, was die Bibel über die flache Erde sagt“.
Misstrauen gegenüber Autoritäten
Asheley Landrum führt das Verhalten der Anhänger von Verschwörungsmythen nicht auf mangelnde Bildung zurück. Zu diesem Schluss kam sie nach den Gesprächen mit Konferenzteilnehmern. Obwohl es Anzeichen dafür gibt, dass Personen mit geringer wissenschaftlicher Vorbildung anfälliger für pseudowissenschaftliche Ideen sind, weist sie darauf hin, dass auch Flacherdler nicht notwendigerweise der Wissenschaft misstrauen. Ihrer Meinung nach hat das Phänomen nichts mit Erziehung zu tun, vielmehr geht es um Misstrauen gegenüber Autoritäten und Institutionen. „Es ist keine Frage der Bildung. Vielmehr geht es tatsächlich darum, Behörden und Institutionen zu misstrauen. Das scheint sowohl auf einer Verschwörungsmentalität als auch auf einem tiefen Glauben zu wurzeln, der sehr nach Religiosität aussieht, aber nicht unbedingt an eine spezifische Religion gebunden ist.“
Landrum sieht auch einen Zusammenhang, der mit einer Anfälligkeit an trügerische Behauptungen in sozialen Medien zusammenhängt. Sie meint, dass die Betroffenen die Fähigkeit verloren haben, zu beurteilen, wann sie Vertrauen haben und wann sie skeptisch sein sollten. Ihr mangelndes Vertrauen betrifft nicht nur Autoritäten und Wissenschaftler, sondern auch wissenschaftliche Einrichtungen wie die NASA, weil die ihrer Meinung nach alle Teil einer massiven Verschwörung sind, die verhindern soll, dass die Wahrheit über die flache Erde aufgedeckt wird. „[Sie] sehen die Welt durch diesen wirklich dunklen Filter, in dem [sie] davon ausgehen, dass alle Behörden, Institutionen und Unternehmen nur dazu da sind, [die Wahrheit] zu unterdrücken.“
Der Philosoph Lee McIntyre von der Boston University, der ebenfalls im Rahmen seiner Forschungsarbeit zur Wissenschaftsleugnung an der Konferenz in Denver teilnahm, ergänzt, dass die Flacherdler, mit denen er sich unterhielt, jeweils an mehrere verschiedene Verschwörungstheorien glaubten, darunter, dass Regierungen das Wetter kontrollieren und von Flugzeugen ausgehende Kondensstreifen in Wirklichkeit Chemtrails sind, mit denen chemischen oder biologischen Substanzen versprüht werden, um das Verhalten der Bevölkerung zu beeinflussen.
„Nur im Glauben, dass wir nicht auf dem Mond waren, sind sie sich einig“, sagt er. „Wenn man ihnen Beweise für die Kugelgestalt anbietet, wie die Ansicht der Erde vom Mond aus, erklären sie das für eine Fälschung“.
Tatsächlich sind viele Flacherdler nach Einschätzung von Beobachtern mehr an einer Verschwörungsidee als an der Bereitstellung eines brauchbaren Modells einer flachen Erde interessiert.
Seltsamerweise misstrauen Flacherdler Wissenschaftlern bzw. der Wissenschaft, sind aber nicht gegen wissenschaftliche Methoden. Landrum halt Anhänger pseudowissenschaftlicher Vorstellungen für durchaus bereit, Experimente zur Stützung ihrer Thesen durchzuführen, aber sie tun sich schwer, ihre Meinung zu ändern, sollte das Experiment fehlschlagen.
McIntyre berichtet von einer verstörenden Diskussion mit einem der Gastredner auf der 1. Internationalen Flacherdlehr-Konferenz im November 2018 in Denver, USA. Um zu prüfen, ob die Erde flach oder eine Kugel ist , vereinbarten er mit ihm, einen Flug von Santiago de Chile nach Auckland, Neuseeland, über die Antarktis durchzuführen. Auf einer Kugel ist diese Reise einige tausend Kilometer lang. Für Flacherdler existiert die Antarktis dagegen nicht als Kontinent, sondern bildet eine Mauer aus Eis, die sich über mehrere zehntausend Kilometer um den Rand der Erdscheibe zieht. Ist die Erde eine Kugel, kann ein Flugzeug die Strecke ohne nachzutanken bewältigen. Im Falle einer Scheibe würde das Flugzeug entlang ihres Randes fliegen. Da dieser Weg wesentlich länger ist (siehe Abbildung 1), muss die Maschine zwischenlanden und nachgetankt werden. Deshalb vereinbarten sie, dass die Erde eine Scheibe ist, falls dies geschehe, andernfalls muss etwas an der Theorie der Flacherde falsch sein. So weit, so gut.
Doch plötzlich hielt sein Gesprächspartner inne und fragte: „Was, wenn das Ganze ein Schwindel ist? Vielleicht müssen Flugzeuge nicht auftanken? Vielleicht können sie mit einer Tankfüllung überall auf der Erde hinkommen. Das könnte alles eine Falle sein.“ Auf die Gegenfrage, ob er damit sagen wolle, dass die gesamte Geschichte der Luftfahrt eine Täuschung sei, damit alle glauben, Flugzeuge müssen zwischendurch auftanken, obwohl sie es tatsächlich nicht müssen, dass all dies getan werde, damit alle den Glauben an die flache Erde aufgeben, bekam er ein schlichtes „Ja“ zur Antwort.
Für McIntyre ist dieses Erlebnis, die Ablehnung grundlegender wissenschaftlicher Erkenntnisse, ein Hinweis auf eine gefährliche Entwicklung. Flacherdler verletzen niemanden direkt, aber durch die Verbreitung von Verwirrung und Zweifel schaffen sie – und andere Verschwörungsmythen – eine Kultur der Ablehnung. Diese kann indirekt Leben kosten, indem sie persönliche oder politische Entscheidungen wie z. B. zu Impfungen oder den Klimawandel beeinflusst.
Sein Fazit: letztendlich beruhen alle Ideen der Flacherdler auf Irrtümern und einem falschen Verständnis der Wissenschaft. „Einige der Flacherdler wissen genug über Physik, um mit dem Vokabular herumzuwerfen, aber sie verstehen eigentlich nicht genug Physik, um von der Wahrheit überzeugt zu werden.“
Nikk Effingham, ein Philosoph an der Universität von Birmingham in Großbritannien, der sich in London mit Flacherdlern getroffen hat, erläutert, dass wir oft nicht erkennen, wie sehr das Vertrauen in Autorität unsere Überzeugungen prägt. „Wenn wir versuchen, zu beweisen, dass so etwas wie die Erde rund ist, weil wir daran glauben und uns deshalb so sicher sind, unterschätzen wir die berechtigte Rolle der Autorität dabei“, sagt er. Die meisten Menschen akzeptieren daher gerne, dass die Welt ein Globus ist, auch wenn sie die wissenschaftlichen Beweise dazu nicht sofort wiedergeben können.
Klar ist auch, dass der Aufstieg des Flache-Erde-Glaubens vor allem durch das Internet und YouTube-Videos angeheizt wurde, wo viele Videos zu finden sind, die angeblich Beweise zeigen, dass die Erde flach ist. „Fast alle, mit denen wir gesprochen haben, sagten, dass sie mit der Idee der flachen Erde entweder direkt auf YouTube in Kontakt gekommen waren oder über ein Familienmitglied, das sie selbst auf YouTube fand”, erklärt Landrum. Flache-Erde-Videos präsentieren oft in rascher Folge zahlreiche Argumente, die Landrum als eine Illusion von Sprachgewandtheit bezeichnet.
Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang das Leugnen von bekannten Experimenten, wie dem Foucaultschen Pendel, das in vielen Museen aufgehängt ist und die Drehung der Erde zeigen soll. Aufgrund der Erhaltung des Drehimpulses bleibt nach den Gesetzen der Physik die Richtung der Schwingungsebene des Pendels konstant, während sich die Erde darunter dreht. Erstmalig wurde solch eine Vorrichtung von Léon Foucault im Jahr 1851 im Pariser Pantheon aufgehängt. Flacherdler halten dagegen, dass die Museen stattdessen das Pendel durch Elektromagnete zum Drehen bringen, um den Besuchern die Erdrotation vorzugaukeln.
Nun ist das Foucaultsche Pendel nicht das einzige physikalische Phänomen, das auf der Erddrehung beruht. Auch die Strömungsrichtungen von Hoch- und Tiefdruckgebieten sind davon abhängig. Durch die Coriolis-Kraft wird die Bewegung der Luftmassen senkrecht zu ihrer eigentlich Strömungsrichtung abgelenkt. Dadurch rotieren Tiefdruckgebiete auf der Nordhalbkugel gegen den Uhrzeigersinn, auf der Südhalbkugel im Uhrzeigersinn. Dasselbe gilt auch für Meeresströmungen.
Aber offensichtlich fehlt es den Flacherdlern und anderen an der Bereitschaft oder der Fähigkeit, Gegebenheiten kritisch und tiefgründiger zu hinterfragen. Einer der „Beweise“ dafür, dass die Erde eine Scheibe ist, beruht auf Fotos, auf denen z. B. die Skyline weit entfernter Städte zu sehen ist, obwohl sie sich aufgrund der Entfernung unterhalb des Horizonts befinden sollte. Tatsächlich handelt es sich hier um eine Lichtbrechung, eine Fata Morgana. Normalerweise nimmt die Temperatur der Luft mit der Höhe ab. Aber gelegentlich kommt es zu Inversionswetterlagen, bei denen die höheren Luftschichten wärmer sind als die am Boden. Dies geschieht vor allem über großen Wasserflächen. Das führt dann dazu, dass Lichtstrahlen, die von Gebäuden nach oben ausgehen, wieder nach unten gebrochen werden und weit entfernte Objekte bei klarer Luft somit in großer Entfernung sichtbar sind.
Wie McIntyre erkannte, sind Wissenschaftsleugner wie die Flacherdler ziemlich unkritisch gegenüber Erklärungen, die zu ihren Vorstellungen passen. Falls sie mit gegenteiligen Ansichten konfrontiert werden, versuchen sie alle möglichen Gegenargumente zu bringen, die beweisen sollen, dass sie doch recht haben, wobei manche bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.
So plante der US-Amerikaner Mike Hughes, bekannt geworden als „Mad Mike” oder „Rocketman” im Jahr 2017 in einer selbstgebauten Rakete von der Mojave Wüste zu starten, um zu beweisen, dass die Erde flach ist. Gegenüber Associated Press erklärte zuvor in einem Interview seine Beweggründe: „Ich glaube nicht an die Wissenschaft. Ich weiß über Aerodynamik und Fluiddynamik Bescheid und darüber, wie sich Dinge durch die Luft bewegen, über Größe von Raketendüsen und den Schub. Aber das ist keine Wissenschaft, das ist nur eine Formel“. Nach einer Reihe von Problemen und Widerständen führte er am 22. Februar 2020 sein Experiment durch, leider mit tödlichem Ausgang.
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