Wahrheit – was ist das?
Vorweg muss ich darauf hinweisen, dass die gesellschaftliche Akzeptanz der Wissenschaft trotz aller kursierenden Verschwörungsmythen recht hoch ist. Im April und Mai 2020 befragte Wissenschaft im Dialog rund 1000 Bürger. Danach gaben 66 Prozent an, Wissenschaft und Forschung zu vertrauen. Der Frage, ob politische Entscheidungen im Umgang mit Corona auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen sollten, stimmten sogar 73 % zu. Warum also gelingt es Verschwörungsmythen sich in Teilen der Bevölkerung einzunisten?
Es wäre schön, wenn es dazu eine einfache Antwort gäbe, aber das ist wohl leider nicht der Fall. Vielmehr sind hierbei offenbar unterschiedliche Gründe und Mechanismen am Wirken, wie zahlreiche Untersuchungen zeigen.
Wie Thiem und Mandwurf zeigen, enthalten die glaubhaftesten Verschwörungsmythen kleine Teile der Wahrheit, um die eine Erklärung gebaut wird. Doch was ist Wahrheit? Hier kommen wir in ein Dilemma, denn wenn es um wissenschaftliche Erkenntnisse geht, halte ich den Begriff der Wahrheit für falsch, zumindest für irreführend.
In der Wissenschaft geht es nicht um Wahrheit, sondern darum, neue Erkenntnisse zu gewinnen, die Beobachtungen besser erklären können als zuvor.
Theorien sind nur begrenzt gültig
Um Forschungsergebnisse abzusichern, gibt es deshalb einen Mechanismus zur Selbstkorrektur, bei dem die experimentellen oder theoretischen Ergebnisse anderer geprüft und nachvollzogen werden. Sollten sich hier Abweichungen oder Fehler zeigen, muss weiter geforscht werden. Eine neue Theorie gilt bestenfalls als vorläufig mit Einschränkungen. Theorien werden permanent überprüft, bis man auf etwas stößt, dass ihnen widerspricht. Solange ein Modell bestätigt wird, bedeutet das nur, dass es im Rahmen des jeweiligen Experiments gültig ist.
Bestenfalls kann man zeigen, dass Theorien und Denkmodelle unter gewissen Umständen nicht mehr zutreffen, d. h. man kann sie nur falsifizieren. Sie gelten somit nur solange, wie sie nicht im Widerspruch zu den Ergebnissen und Beobachtungen anderer Experimente stehen. Andernfalls wird die betreffende Theorie überarbeitet, erweitert oder durch eine neue, bessere ersetzt. Aber wir werden nie zu DER unumstößlichen Wahrheit gelangen!
Verschwörungstheorien dagegen verstehen sich als DIE WAHRHEIT und wollen nicht falsifiziert werden!
So gesehen haben Anhänger von Verschwörungsmythen den wissenschaftlichen Prozess nicht verstanden, sei es aufgrund fehlender Kenntnisse, psychologischer Blockaden oder willentlich.
Eine Rechtfertigungslinie von Anhängern und Verfechtern von Verschwörungsmythen verweist darauf, dass die Wissenschaft sich oft geirrt hat. Wenn Erkenntnisse aufgrund neuer Daten von Forschern revidiert oder angepasst werden müssen, interpretieren sie dies als Schwäche und Fehler oder schlimmer als bewusste Falschinformation durch die Eliten, um die Bevölkerung zu manipulieren. Dieses Taktik nutzt dabei den Wunsch nach Einfachheit und Eindeutigkeit aus, um sich in einer komplexer werdenden Umwelt orientieren und behaupten zu können.
Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Corona-Pandemie ist dafür ein aktuelles Beispiel (Stand: Herbst 2020). Anfangs war die Datenlage schwach. Aber im Laufe der Zeit fanden Forscher immer mehr über das Virus heraus, wodurch sich die wissenschaftlichen Erkenntnisse und Empfehlungen mehrfach änderten. Da sich die verschiedenen Forschergruppen mit unterschiedlichen Aspekten der Erkrankung und ihren
Auswirkungen befassten, kamen sie zu unterschiedlichen Aussagen. Das ist eine ganz normale Erscheinung im wissenschaftlichen Prozess. Doch nähern sich mit zunehmendem Wissensstand die Meinungen immer weiter an. Die Entwicklung ist bis heute noch nicht abgeschlossen. Bis zu einem allgemein akzeptierten
Wissensstand über die Corona-Erkrankung und ihren Folgen braucht es einfach Zeit.
Angriffslinien
Wenn der Wissensstand mit der Zeit anwächst, stellt sich die Frage, warum tauchen bei unklarem Kenntnisstand schon allerlei Verschwörungsmythen auf und welchen Nutzen haben ihre Vertreter davon? Noch schärfer stellt sich das Problem bei pseudowissenschaftlichen Thesen zu seit Jahrhunderten oder Jahrzehnten alten akzeptierten Forschungsergebnissen.
Nun, da die Vertreter von Verschwörungsmythen nach eigenem Verständnis im Besitz der unumstößlichen Wahrheit sind, fördern sie autoritäre Weltsichten. Durch den Aufbau von vermeintlichen Bedrohungen lassen sie sich als Machtmittel einsetzten. Normalerweise wird als Wahrheit anerkannt, was sich nach einer möglichst breit angelegten Diskussion ergibt. Doch da Verschwörungsgläubige schon im Besitz der Wahrheit sind, sind sie oft zu einer kritischen Auseinandersetzung nicht bereit.
Weit verbreitet ist die Art und Weise, zur eigenen Meinung passende, aber wissenschaftlich schlecht gemachte Studien immer wieder hervorzuheben. Funktioniert das irgendwann nicht mehr, wird die Zielrichtung der Argumentation geändert und neue Theorien und Hypothesen verbreitet.
Beliebte Argumente für pseudowissenschaftliche Thesen sind Verweise auf berühmte Wissenschaftler, die einst angefeindet wurden, wie Galileo Galilei, Kopernikus und andere. Die Idee dahinter ist einfach und schlicht: Die „gegenwärtig Verblendeten“, die an die hergebrachte Wissenschaft Glaubenden, werden sich doch noch den neuartigen Erkenntnissen anschließen.
Wird es schwierig, gehen Vertreter von Verschwörungsmythen in den Angriffsmodus über.
In den einschlägigen Foren werden Gegenmeinungen unterdrückt, Kritiker mundtot gemacht oder angegriffen bis hin zur Androhung juristischer Mittel oder Drohungen.
Wissenschaft wird angegriffen, verunglimpft oder als korrupt und somit unglaubwürdig dargestellt.
Das geht so weit, dass auch das politische System ins Visier der Wissenschaftsleugner gerät. Einerseits erwartet die Bevölkerung, dass die Politik wissenschaftliche Erkenntnisse aufgreift und entsprechend zum Wohle aller handelt. Aber je einflussreicher Wissenschaftler werden, desto mehr leidet die Legitimierung der politischen Führung. Das nutzen die Protagonisten der Verschwörungsmythen für ihre Zwecke aus. Ändern Wissenschaftler ihre Empfehlungen aufgrund neuer Erkenntnisse, wird dies ausgenutzt, um sowohl das Vertrauen in die Politik und die Wissenschaft zu schwächen. Zusätzlich sind Wissenschaftler, die als Experten in gewissen Situationen auftreten, für Mythenanhänger nicht demokratisch legitimiert.
Ein weiterer Ansatzpunkt für die Verbreitung von Verschwörungsmythen bietet die scheinbare Schwerfälligkeit und Trägheit der Politik, obwohl dies eigentlich normal ist.
Denn politische Entscheidungen, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren benötigen Zeit, um die Daten zu prüfen und zu bewerten. Danach gilt es, die daraus abgeleiteten Maßnahmen ebenfalls auf den Prüfstand zu stellen und ebenfalls zu bewerten. Hinzu kommen Verzögerungen, weil verschiedene politische Institutionen, wie das Parlament, ebenfalls am Entscheidungsprozess beteiligt werden müssen.
Anderseits gibt es politische Strömungen und Regierungen, die selbst Verschwörungsmythen verbreiten bzw. ihnen Vorschub leisten, wie die Trump-Regierung in den USA, die den Klimawandel leugnete und bewusst die Bevölkerung über die Corona-Pandemie belogen hat bzw. die Gefährlichkeit des Virus trotz rasant steigender Infektionszahlen verharmloste. Aber US-Präsident Trump war nicht der einzige, der Verschwörungsmythen und antidemokratischen Strömungen Vorschub leistete. Weltweit argumentieren Populisten wie der türkische Präsident Erdogan, Viktor Orban in Ungarn, Wladimir Putin in Russland und andere ähnlich: Gegen DIE ANDEREN – Parteien, Medien, Regierungen und Richter – hilft nur die starke Hand eines starken Führers, der es besser weiß als wissenschaftlichen Experten.
Alle Verschwörungsmythen haben aber eines gemeinsam. Um sich zu schützen, werden nahezu allmächtige Feinde aufgebaut, in dem sie behaupten, es gäbe Aktionen von mächtigen Gruppen und Personen, die vor der Öffentlichkeit verborgen agieren. Deren Pläne und Handlungen wären äußerst komplex, weil dabei viele Akteure zusammenarbeiten würden. Deshalb ist es auch nur wenigen möglich, diese Verschwörungen aufzudecken. Versuche zu beweisen, dass Verschwörungsmythen schlicht falsch sind, sie zu falsifizieren, sind daher sehr schwierig, da ihre Protagonisten behaupten, die geheimen Verschwörer würden sich tarnen und Falschinformationen verbreiten, um ihre Aktionen zu verbergen. Vielfach wird der Spieß einfach umgedreht, in dem denjenigen, die aufklären wollen, vorgeworfen wird, selbst Teil des Komplotts zu sein.
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