Wenn Wissenschaftler eine genetische Krankheit verstehen wollen, gehen sie dabei meistens nach einem altbewährten Schema vor:

  1. Identifiziere den zugrundeliegenden Erbdefekt
  2. Baue den Erbdefekt in einem Modellsystem (Zellkultur, Maus, etc.) nach
  3. Analysiere den Krankheitsmechanismus
  4. Teste, wie man die Krankheitsausprägung abschwächen kann
  5. Publiziere in einem guten Journal, kassiere den Nobelpreis und sei der Held auf jeder Party

Klingt nach einem guten Plan und funktioniert auch oft bis inklusive Punkt 4. Aber was, wenn man einen Krankheits-auslösenden Gendefekt in ein Versuchstier einbaut, das sich aber weigert krank zu werden? Ist das dann gut oder schlecht?

Ringo war einer dieser Fälle, ein Golden Retriever, der 2003 in Brasilien auf die Welt kam. Er und seine Wurfgeschwister wurden so gezüchtet, dass sie eine Defekte Version des Dystrophin-Gens trugen. Dystrophin ist ein Protein, das in Muskelfasern benötigt wird. Einer von 5000 Menschen kommt mit einem Defekt in diesem Gen auf die Welt. Als Folge erkranken diese Leute an der Muskeldystrophie Duchenne, bei der erste Lähmungserscheinungen im Kindesalter auftreten und die im jungen Erwachsenenalter immer tödlich endet. Anhand der Hunde wollte man die Krankheit genauer untersuchen.

Bei Ringos Geschwistern hat das auch hervorragend geklappt, bei ihm selbst allerdings nicht. Er erfreute sich bester Gesundheit bis ins hohe Hundealter, obwohl er genau wie seine Geschwister den Gendefekt trug. Warum wurde Ringo nicht krank? Es stellte sich heraus, dass in dem Hund zufällig eine weitere Mutation aufgetreten ist, die ihn vor der Muskeldystrophie schützt. Dabei handelte es sich um eine Mutation in einem Gen, die zu einer verstärkten Produktion des Jagged1 Proteins führt. Jagged1 wurde nie mit Muskeldystrophie in Verbindung gebracht, aber seine verstärkte Produktion hat die Krankheitsausprägung verhindert. Um ganz sicher zu gehen hat man das Dystrophin Gen daraufhin auch in Zebrafischen mutiert, woraufhin die Fische erkrankten, außer man mutierte zusätzlich das Gen für Jagged1.

Durch Ringo sind die Forscher zufällig auf eine Mutation gestoßen, die den krankheits-auslösenden Defekt kompensiert – ein Konzept das man Synthetic Rescue nennt. Die Forscher suchen nun nach Medikamenten, die die Jagged1 Produktion erhöhen, um eine bisher unheilbare Krankheit behandelbar zu machen.

Glück gehabt

Als Forschungsmethode taugt es wenig darauf zu hoffen, dass Versuchstiere zufällig rettende Mutationen entwickeln. Viele Forscher, inklusive meiner Wenigkeit, suchen deshalb gezielt nach Synthetic Rescue Mutationen, indem sie eine krankmachende Genvariante einführen und zusätzlich systematisch andere Gene mutieren. Aber vielleicht ist das in vielen Fällen gar nicht notwendig.

Leute die aufgrund eines Erbdefektes eine Krankheit entwickeln, sind für die Forschung natürlich interessant und werden entsprechend untersucht. Aber was ist mit den Leuten, die aufgrund eines Erbdefektes eigentlich krank sein müssten, es aber nicht sind? Von denen hört man wenig, weil sie keinen Grund haben zum Arzt zu gehen um sich auf diesen Erbdefekte untersuchen zu lassen. Dabei sind es genau diese Menschen, die eine rettende Zusatz-Mutation tragen könnten.

Wir sind beinahe 7,4 Milliarden Menschen auf der Welt und praktisch alle davon tragen irgendwelche krankheitsrelevanten Gene. Die Menschheit an sich ist vermutlich vollgestopft mit Synthetic Rescue Mutationen, die wir aber nicht entdecken werden, wenn wir uns nicht auch für die Gene der gesunden Leute interessieren.

Oben: Zelle mit Erbdefekt (rote Mutation) => Zelle stirbt Unten: Zelle mit Erbdefekt (rot) und zusätzlicher Synthetic Rescue Mutation (Grün) => Zelle überlebt - Synthetic Rescue

Oben: Zelle mit Erbdefekt (rote Mutation) => Zelle stirbt
Unten: Zelle mit Erbdefekt (Rot) und zusätzlicher Synthetic Rescue Mutation (Grün) => Zelle überlebt

Unerwartete Genetische Helden

Die Wissenschaft kennt hunderte Mutationen die Krankheiten verursachen. Die systematische Suche nach den noch interessanteren Genvarianten – nämlichen denen die eine Krankheit verhindern – steckt noch in den Kinderschuhen. Einer der Pioniere auf dem Gebiet ist der amerikanische Forscher Stephen Friend. Er hat ein Projekt namens „The Resilience Project – A Search for Unexpected Heroes“ ins Leben gerufen. Man schätzt, dass etwa einer von 20.000 Menschen ein „Unexpected Genetic Hero“ ist. Das sind Menschen, die eigentlich erkranken müssten, es aber nicht tun, weil sie durch eine Synthetic Rescue Mutation davor geschützt sind. Um diese Helden zu finden sammelt das Resilience Project DNA Proben von einer Million freiwilligen Menschen rund um den Globus, die über 40 Jahre alt sind und nie an einer genetischen Kindheitserkrankung gelitten haben. Diese werden dann auf Gendefekte getestet, von denen man weiß dass sie eigentlich schwere Kindheitserkrankungen verursachen müssten. Da diese Leute nicht erkrankt sind, muss sie irgendetwas davor bewahrt haben, sei es Nahrung, Umwelteinflüsse oder eben Rescue Mutationen. Letztere will das Projekt finden um Therapien zu entwickeln.

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Kommentare (8)

  1. #1 Joseph Kuhn
    27. Dezember 2015

    Klingt erstens ein wenig wie die molekularbiologische Variante der Resilienzforschung (“was hält Menschen trotz Belastungen gesund”) und zweitens wie ein neues Versprechen der Genforschung, jetzt wirklich richtig toll Krankheiten zu heilen. Viel Glück!

  2. #2 Thomas
    Hamburg
    28. Dezember 2015

    Ein interessantes Thema. Der Artikel ist zugleich auch sehr gut geschrieben, so solll es sein. Vielen Dank für ein Stück “unentdecktes Land” auf meiner persönlichen Landkarte der Neugier. Eine Frage habe ich zu der Grafik, warum ist der Preis für die komplette Sequenzierung ab 2007 so “eingebrochen”. Die Gerade knickt ja richtig ab zu dem Zeitpunkt. Was ist dort passiert womit Moore nicht rechnen konnte?

    • #3 Martin Moder
      28. Dezember 2015

      Hey Thomas!
      Eine ausgezeichnete Frage, ich hätte wohl darauf eingehen sollen.
      Von 2001 bis 2007 verwendete man das, was man heute als „First-Generation Sequencing“ bezeichnet. Damit ist vor allem das sogenannte Sanger-Sequencing gemeint, das bis heute eine der genauesten, aber langsameren und kostspieligen Methoden ist. Ab 2008 kamen die „Next Generation Sequencing“ Techniken auf den Markt, z.B. Illumina und Roche 454 Sequencing. Heute kann man ein menschliches Genom mithilfe eines Nanopore-Sticks sequenzieren. Das Gerät hat die Größe eines dicken USB Sticks und sequenziert ein Genom, indem es DNA Stränge durch eine Pore zieht und anhand elektrischem Widerstands misst, welche Base gerade durch die Pore wandert.

      Cheers

  3. #4 Dr. Webbaer
    31. Dezember 2015

    Mal ganz laienhaft gefragt:
    Wann genau liegt ein Erb- oder Gendefekt vor und wie wird dieser erkannt?

    MFG + ein frohes Neues schon einmal + guten Rutsch,
    Dr. W

    • #5 Martin Moder
      31. Dezember 2015

      Hey!
      Das ist eine gute Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten ist.
      In manchen Fällen ist es eindeutig. Wenn du z.B. eine Mutation in dem Gen FANCC hast, können deine Zellen DNA Schäden nicht gut reparieren und du wirst um die 30 an Krebs sterben. In meinen Augen eindeutig ein Erbdefekt. Man weiß in diesem Fall, dass zumindest in bestimmten Würmern, eine Rescue Mutation in dem Gen Ku70 die Überlebenswahrscheinlichkeit trotz defektem FANCC erhöht.

      In anderen Fällen ist es schwieriger. Manche Genvarianten sind mit hoher Intelligenz assoziiert. Ist es jetzt ein Gendefekt wenn man die nicht hat? In meinen Augen nicht, weil ja keine Krankheit vorliegt. Aber was als krank gilt und was als gesund ist letzten Endes immer Definitionssache.

      Wenn jemand eine Krankheit hat, kann man oft aus der Familiengeschichte ableiten, ob es sich um eine Erbkrankheit handelt. Um zu verstehen was genau mutiert ist, kann man viele Patienten mit gleichen Symptomen hernehmen und schauen, ob sie irgendwelche Mutationen besonders häufig haben, verglichen mit der gesunden Bevölkerung. Wenn man so eine Mutation findet, sie im Tierversuch nachbaut und sie da auch zur Krankheit führt, kann man sich ziemlich sicher sein, die schuldige Mutation entdeckt zu haben.

      LG aus Bratislava & guten Rutsch!

  4. #6 Dr. Webbaer
    2. Januar 2016

    Vielen Dank für Ihre Nachricht, lieber Herr Moder.

    Ihr Kommentatorenfreund, der bei diesem Thema als Dilettant von seinem pers. Bildungskanon zehren kann, zudem auch noch ein wenig recherchiert hat, fasst zusammen:
    Gen-Mutationen können bei der Zeugung geschehen, wenn es bei der Neukombination der Genome zu Unregelmäßigkeiten kommt, auch zu anderer Zeit, beim sozusagen fertigen Lebewesen, Mutationen geschehen regelmäßig und oft und Mutationen werden unter bestimmten Umständen, insbesondere wenn sie erkennbar schädlich sind, Erb- oder Gendefekte genannt.
    Wobei dies ein “heißes Eisen” ist, also in der Bestimmung schwierig.
    Nicht schwierig ist dagegen die Erkennung der Mutation selbst?!

    MFG
    Dr. W

  5. #7 Matthias Wolf
    2. Januar 2016

    Eine nicht unbedenkliche Folge ist die ›Überdiagnose‹: Anomalien bei an sich Gesunden, die weder ein Krnkheitsbild auslösen noch das Leben verkürzen, werden behandelt – was dann Beides zur Folge haben kann.

    Mehr dazu auf https://scienceblog.at/grenze-zwischen-gesundheit-und-krankheit

  6. #8 Joseph Kuhn
    8. Januar 2016

    “Manche Genvarianten sind mit hoher Intelligenz assoziiert.”

    Hat man inzwischen wirklich Genvarianten gefunden, die mit “hoher” Intelligenz assoziiert sind (die Frage, wie eindeutig und klar das Konzept “Intelligenz” ist, einmal beiseite gelassen)? Die kürzlichen Befunde von Rietveld et al. waren, wenn ich es recht sehe, ja eher bescheiden und unsicher.