Wir teilen und empfehlen, aber oft lesen wir nicht viel mehr als die Überschrift. Das ist natürlich oberflächlich, aber manchmal auch lustig. Hauptsache, man bekommt eine Antwort, wenn man es genauer wissen will und nachfragt.
Bei dieser Folie konnte ich nicht widerstehen: Ich habe sie gleich fotografiert und den Satz „Social media will make it worse“ über Twitter verbreitet. Das ging so flott, dass ich nicht einmal sagen kann, was unter dieser Titelzeile sonst noch präsentiert wurde. Als ich vom Smartphone wieder aufblickte, war der Referent schon eine Folie weiter. Ich kann immerhin sagen, dass die Folie aus einer Diskussionsrunde des EuroScience Open Forum (ESOF) stammt, das alle zwei Jahre ausgerichtet wird. Auf dieser Tagung kamen letzte Woche wieder Wissenschaftler, Pressesprecher, Politiker und Journalisten zusammen und diskutierten über den Zustand der Wissenschaft. Als ich meinen Tweet absetzte, drehte sich die Diskussion gerade um die Vor- und Nachteile von sozialen Netzwerken: Ein Nachteil sei, dass man Inhalte aus ihrem Kontext herauslöse, hieß es – pikanterweise habe ich genau das mit meinem Tweet getan.
Der Referent war Daniele Fanelli. Er untersucht an der Stanford University Verzerrungen und Fälschungen in der Wissenschaft. Oft hat er positive Nachrichten zu vermelden: Zum Beispiel schreiben Wissenschaftler laut seiner Analyse heute nicht mehr Fachartikel als früher, wenn man die vielen Ko-Autorschaften herausrechnet. Und Fanelli argumentiert auch dagegen, das Zurückziehen eines Fachartikels mit dem Eingeständnis eines Fehlverhaltens gleichzusetzen. Die „Retractions“ haben zwar deutlich zugenommen, aber das liegt vor allem daran, dass immer mehr Herausgeber von dieser Praxis Gebrauch machen. In den Fachjournalen, die schon früher Retractions vornahmen, hat sich die Quote nicht erhöht. (In der aktuellen Ausgabe der „Zeit“ wird im Wissen-Aufmacher hingegen eine strengere Qualitätskontrolle gefordert, um die Zahl der zurückgezogenen Artikel zu senken.)
In seinem Vortrag auf dem EuroScience Open Forum spricht Fanelli hingegen über einen problematischen Trend in der Wissenschaft: das Verkürzen von Gedanken, wenn man nur 140 Zeichen zur Verfügung hat, und das schnelle Reagieren, weil die sozialen Netzwerke keine Merklisten anbieten. Es ist für ihn ein neues Forschungsfeld, und er bietet seine eigenen Artikel als Beispiel an: Sie werden immer seltener gelesen, obwohl die Quote der Twitter- und Facebook-Shares in etwa konstant bleibt. Natürlich hatten die älteren Artikel mehr Zeit, um gelesen zu werden, und sie waren vielleicht für das Forschungsfeld noch überraschender als die darauf aufbauenden. Aber der Trend ist schon deutlich. Auch in der Wissenschaft, beschrieb Fanelli seinen Eindruck, lesen die Leute weniger.
Die Überschrift sagt schon alles
Nach der Diskussionsrunde machte mich ein Kollege auf eine Untersuchung von Arnaud Legout aufmerksam, der in einer großen Stichprobe zu Nachrichten-Websites ermittelt hat, dass die Nutzer lieber liken und sharen als lesen. „Likes and shares are not a meaningful measure of content popularity”, wird Legout zitiert.** Ein kleines Experiment zu diesem Thema hat sich das Portal „The Science Post“ ausgedacht: Es hat im Juni einen Artikel mit der Überschrift „Study: 70% of Facebook users only read the headline of science stories before commenting“ veröffentlicht. Er wurde mehr als 50.000 Mal geteilt. Der eigentliche Text las sich indes so: „Lorem ipsum dolor sit amet, consectetur adipiscing elit. Nullam consectetur ipsum sit amet sem vestibulum eleifend…“
Erzeugen Wissenschaftler, wenn sie Social Media nutzen, dieselben Effekte wie die normale Bevölkerung? Warum nicht?, könnte man zurückfragen. Ein Doktorgrad mag im eigenen Fach ein hohes Niveau gewährleisten, schützt aber jenseits der Fachgrenzen nicht unbedingt vor Dummheit. Ich glaube aber, dass es für eine Antwort noch zu früh ist. Ich frage mich stattdessen, wie schlimm es ist, wenn mir jemand einen Text empfiehlt, den er nicht gelesen hat. Es könnte ja sein, dass er von dem Text schon gehört hat oder dem Autor blind vertraut. Das gab es auch früher schon. In meinem Studium habe ich mal einen Kurs absolviert, in dem der Dozent das Lehrbuch eines Bekannten wählte. Er sagte zu Beginn, dass er dem Kollegen vertraue. Und dann musste er in jeder Seminarsitzung die Druckfehler des folgenden Kapitels durchgeben.
Die Oberflächlichkeiten werden uns wohl erhalten bleiben. Hätte ich auf mein Foto verzichten sollen? Es ist ja auch ohne Kontext – oder gerade wegen des fehlenden Kontextes – lustig (zumindest lustig genug, um getwittert zu werden, denke ich). Wir werden Wege finden, mit den Oberflächlichkeiten umzugehen: Journalisten und Blogger werden noch länger an Überschriften und Vorspännen feilen, da sie wissen, dass viele ihrer Leser nicht weiterlesen. Sinnvoll wäre aus meiner Sicht auch ein kleiner Quellenapparat, der im Normalfall nicht sichtbar ist, aber bei Bedarf Auskunft gibt über die Quellen der Bilder und Zitate usw. (Vielleicht sind die Apps irgendwann intelligent genug, um diesen Apparat selbst zusammenzustellen?) Und nicht zuletzt warten Social-Media-Nutzer wie ich auf den Knopf zum Snooze-Retweeten – der den Link erst in fünf Minuten weitergibt, damit es plausibel erscheint, dass ich den Artikel auch gelesen haben könnte.
One more thing . . .
** Die Studie wurde im Juni auf einer Fachkonferenz vorgestellt und ist noch nicht in einem Fachjournal publiziert worden. Sie ist übrigens nicht so pessimistisch, wie es klingt: Sie zeigt vielmehr die Macht des Publikums auf, denn nach Legouts Analyse sorgen die Nutzer für mehr Seitenaufrufe als die Journalisten. Sie seien die neuen Gatekeeper für Nachrichten.
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