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Seiner Geschichte vom Betrachter und vom Blick hat der Kunsthistoriker Hans Belting ein
aufregendes neues Kapitel hinzugefügt. Die Perspektive – der Durch-Blick – galt bislang
als eine genuin westliche Erfindung. Belting fordert uns auf, ihre Wurzeln im Orient zu suchen. Und er zeigt, auf welchem Weg das Wissen der Perspektive in den Westen elangt ist, warum es sich nur hier erfüllen konnte, und wie es kam, dass im Orient andere Lösungen den Sieg davon trugen.

Erst in unserer Gegenwart dringt das perspektivische Abbild dank technischer Medien auch in den ehemals abbild-feindlichen islamischen Orient vor. Aber bild-feindlich war der Islam nie. Belting gibt genügend Beispiele für die reiche Bildkultur in Bagdad. Verboten war vielmehr,

körperliches Leben mit Stimme und Atem auf leblose Bilder zu übertragen.

Der Weg zum Blick, und damit also auch der Weg zur perspektivischen Darstellung waren damit versperrt.

Die im Orient entstandene optische Theorie ist eine Wisenschaft vom Sehen, nicht vom Bild. Den Schlüssel zum Verständnis des arabischen Zugangs findet Belting im Werk von Alhazen, Abu Ali al-Hasan Ibn al-Haitham, geboren in Basra 965, in Bagdad studiert, dann bis 1040 in Kairo tätig. Über die Lektüre der griechischen Texte hinausgehend entwirft er eine Wissenschaft vom Sehen und beschreibt darin unter anderem auch das erste Modell einer Camera obscura. Das Sehen war für Alhazen stets die Wahrnehmung von Licht und nie das Hervorbringen von Bildern.

Im 13. Jahrhundert wurden seine Schriften im Westen bekannt, zuerst unter dem Titel
“Perspektive”, später “Optik”. Eine Blicktheorie und Bildpraxis enstanden daraus erst 200
Jahre später. Belting gelingt die Großtat, endlich das verzwickete Verhältnis zwischen Mathematik und Perspektive genauer zu beleuchten, wobei er sich vor allem auf Brian Rotman stützt. Der Zusamenhang liegt nicht etwa in den Techniken der Winkelmessung wie der Sinusfunktion, sondern schlicht in der Null, die dem Fluchtpunkt entspricht.
Die Sehtheorie von Alhazen hat zwar schon beide zusammen gebracht, aber

bei ihm hatte in der Geometrie des Sehfeldes (..) zwischen Auge und Welt kein Bildschirm Platz.

Der Anwendung der Perspektive in der Kunst geht eine philosophsiche Verschiebung der
Sehtheorie Alhazens voraus. Roger Bacon versteht seine Thesen als Aufforderung, im Sichtbaren nach Erkenntnis zu suchen und leitet daraus einen empirischen Zugriff auf Gesehenes ab.

Eine weitere Schlüsselfigur entdeckt Belting in dem Philosophen Biagio Pelacani. Er

beendete den Streit um Wahrnehmung und Erkentnis, als er die Erklenntnis in den visuellen Prozesss zurückführte.

Um 1400 lehrt er in Florenz und wird mit seinen Forschungen zum Vermittler zwischen Alhazens Optik und den Experimenten Brunelleschis sowie der Theorie Leon Battista Albertis.

Er erfand einen mathematischen Raum, in welchem die körperlichen Dinge ebenso messbar wurden wie der Raum, in dem sie sich befanden.

Belting plädiert für eine Geschichte des Blicks, in der die westliche Form der Perspektive
nur eine von vielen Möglichkeiten darstellt. Der Blick bleibt wie immer bei ihm die letzte Instanz, und mit ihm der Betrachter und das Subjekt.

Der Blick ist weder physiologisch zu bestimmen noch alleine von den Techniken der Wahrnehmung abhängig, deren er sich bedient hat. Im Blick liegt ein Akt der Selbstbehauptung, der uns zum Subjekt führt, das mit dem Blick Gewalt ausübt oder Gewalt erleidet.

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Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des
Blicks. Verlag C.H.Beck, München 2008. €29,90