Sehr geehrte Frau Claudia Richter!
Sie sind Medizinjournalistin bei der Presse, einer österreichischen Tageszeitung, die auf eine 160jährige Tradition verweisen kann und als Qualitätsmedium gilt. Wie Sie natürlich wissen, ist der Gesundheitsbereich in den Medien ein recht heikles Terrain. Wo ein großer Markt besteht und die Grenzen zwischen Information, PR und Schleichwerbung fließend sind, ist es besonders wichtig, eine seriöse Reputation zu bewahren.
Die KollegInnen vom Online-Standard haben sich kürzlich mit unkritischer Globuli-Werbung in die Nesseln gesetzt, beim Kurier schaut es auch nicht besser aus, und was Ihr Kollege Hademar Bankhofer zur Zeit so zu hören bekommt, wissen Sie bestimmt schon. Bei Mittel- bis Unterklassemedien sind die Gesundheitsseiten überhaupt in einem solchen Ausmaß von getarnter Werbung durchseucht, dass mir eine Expertin einmal geraten hat, diese am besten überhaupt nicht erst zu lesen.
Bei Ihnen ist das anders. Sie schreiben in einer Qualitätszeitung und sind mehrfach mit Preisen ausgezeichnet worden. Erst im Juni haben Sie wieder einen Preis für Gesundheitsjournalismus erhalten, und dazu ist Ihnen zu gratulieren. Trotzdem: Der Artikel mit dem Titel Tinnitus, der Terror in den Ohren, den Sie am 5. Mai in der Presse veröffentlicht haben, lässt mich nicht in Ruhe.
Tinnitus ist ein weit verbreitetes Leiden. In meinem privaten Umfeld
gibt es einen Fall von Tinnitus und auch mindestens einer der
ScienceBlogger hier leidet an den Ohrgeräuschen. Wer sich mit Tinnitus
ein wenig auseinandergesetzt hat, der weiß zwei grundlegende Dinge:
- Es ist nicht klar, wie oder wodurch er verursacht wird.
- Es gibt derzeit keine Therapie mit anerkannter Wirksamkeit.
Kommen wir zurück zu Ihrem Artikel. Sie berichten dort über drei
Therapieformen: Psychotherapeutische Verfahren, die Grinberg-Methode
und das Tiex-Gerät. Über psychotherapeutische Verfahren berichten Sie
eher allgemein, während die Grinberg-Methode und das Tiex-Gerät in
einem eigenen Kasten mit Angaben zu Preis und Kontaktmöglichkeit
vorgestellt werden.
Über die Grinberg-Methode schreiben Sie, dass diese auf eine “Verhaltensänderung” abziele. Da
die Anwendung der Grinberg-Methode gegen Tinnitus ein österreichisches
Unikum zu sein scheint und erst seit Februar 2007 im Einsatz ist, gibt
es freilich keinerlei klinische Studien dazu. Wir müssen uns wohl oder übel auf
die Aussagen der Anbieterin der Grinberg-Workshops verlassen, die Sie wiedergeben. Als zusätzliche
Information hätten Sie Ihren Lesern vielleicht mitteilen können, dass
die Grinberg-Methode ein wissenschaftlich nicht anerkanntes Konzept der
Alternativmedizin ist, das auf dem etwas obskuren Glauben beruht, man
könne alle Krankheiten und Probleme eines Menschen aus der
Beschaffenheit seiner Fußsohlen ablesen.
Doch noch mehr als die eher spärlichen Informationen zur Grinberg-Methode
hat mich verwundert, was Sie über das Tiex-Gerät
schreiben. Dabei sind so viele Fragen offen geblieben, dass ich mir
erlaube, diese einzeln zu formulieren:
1. Ihre Beschreibung klingt, als wäre das Tiex-Gerät irgendwie neu. Wieso klären Sie Ihre Leser nicht darüber auf, dass diese Erfindung des Kärntner Fernmeldetechnikers Gerald Neuwirth aus dem Jahr 1997 stammt und früher bereits unter den Namen Tinnitus-Killer, Tinnex und Ti-Ex gehandelt wurde, bevor die Herstellerfirma Tinnitronics 2007 in den Konkurs schlitterte?
2. Sie schreiben, Herr Neuwirth habe seinen Tinnitus “mit seiner eigenen Erfindung ‘Tiex’ kuriert”. Das ist die private Meinung von Herrn Neuwirth. Wieso stellen Sie diese ganz im Sinne von post-hoc-ergo-propter-hoc als Tatsache dar?
3. Im Infokasten schreiben Sie, das Gerät basiere “auf dem Prinzip der Elektrostimulation”. Das ist eine Behauptung von Herrn Neuwirth, wie aus einem Zitat in Ihrem Artikel und auf seiner Webseite ersichtlich. Ganz offensichtlich handelt es sich aber um ein Prinzip der elektromagnetischen Stimulation. Das heißt, es werden keine Stromimpulse, sondern elektromagnetische Impulse in den Kopf geschickt. Zwar gibt es ein paar (alte und letztlich nicht reproduzierbare) klinische Studien zur Elektrostimulation gegen Tinnitus, die auf Herrn Neuwirths Webseite aufgelistet werden als hätten sie etwas mit seinem Gerät zu tun. Doch abgesehen von transkranieller Stimulation scheint die Datenlage zur elektromagnetischen Stimulation vulgo Magnetfeldtherapie gegen Tinnitus eher mager bis desaströs zu sein. Wussten Sie nichts von diesem Unterschied, oder haben Sie Herrn Neuwirths Behauptung einfach übernommen?
4. Ist Ihnen bekannt, dass das Tiex-Gerät in den einschlägigen Tinnitus-Foren bei ehemaligen Anwendern einen sehr schlechten Ruf genießt und dass die Deutsche Tinnitus-Liga bereits vor acht Jahren von der Tiex-Therapie abgeraten hat?
5. Sind die von Ihnen zitierten Aussagen über die “guten Erfahrungen”, die Dr. Andreas Wolken mit Tiex gemacht hat, aktuell, oder handelt es sich nur um jene Statements, die Dr. Wolken bereits anno 2000 im ORF abgegeben hat?
6. Bezeichnen Sie Herrn Dr. Paal Bentsen, der dem Tiex-Gerät in einer Studie hervorragende Ergebnisse bescheinigte, deshalb als “Tinnitus-Spezialisten”, weil er zum Thema Tinnitus vor sieben Jahren einen einzigen Artikel im Ausmaß von zwei Druckseiten in norwegischer Sprache veröffentlicht hat?
7. Ist Ihnen bekannt, dass die Tiex-Studie von Dr. Bentsen, die Sie anführen, nie in einer Fachzeitschrift erschienen ist, sondern nur 2001 auf einem Kongress vorgestellt wurde? Dass die Studie eine geringe Fallzahl, unklare Endpunkte und vor allem keine Kontrollgruppe hatte? Dass “strappato” von Stationäre Aufnahme darauf schon letztes Jahr hingewiesen (und jetzt seine Wette im letzten Satz gewonnen) hat?
8. Frau Claudia Richter, Sie sind Kärntnerin. Tiex-Erfinder Gerald Neuwirth ist ebenfalls Kärntner. Ich selbst habe viele Jahre in Kärnten gelebt und viele meiner Bekannten sind Kärntner. Kärnten ist schön, aber recht klein, dort kennt praktisch jeder jeden, wie man so sagt. Ich kenne zwar weder Sie noch Herrn Neuwirth persönlich, doch wie es der Zufall so will, kenne ich jemanden, der sowohl Herrn Neuwirth als auch Sie selbst kennt. Und aus einem Gespräch mit diesem meinem Bekannten habe ich letztes Jahr erfahren, dass der Kontakt zwischen Ihnen und Herrn Neuwirth in erster Linie nicht journalistischer Natur ist, sondern – nun ja – verwandtschaftlicher. Frau Richter, hätten Sie die Leser Ihres Artikels nicht von diesem Interessenskonflikt wissen lassen sollen?
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