In Innsbruck liegt ein Mädchen im Koma, in Lienz muss eine Schule schließen und die WHO malt Schreckensszenarien. Gleichzeitig hört man von impfmüden Ärzten, von Zwei-Klassen-Medizin und von der Profitgier von Big Pharma. Die Schweinegrippe wütet also, zumindest medial. Impfen lassen oder nicht? Der österreichische Standard propagiert nun eine dritte Alternative: Die “Alternativ-Spritze” gegen Schweinegrippe, erstmals aufgetaucht in den letzten Zeilen eines Artikels vom 20. Oktober:
Als naturheilkundliche Alternative bieten Ärzte übrigens auch die
Paracelsus-Grippe-Prophylaxe an. Diese immunstimulierende Spritze wirkt
gegen alle infektiösen Krankheiten und muss im Lauf des Winters dreimal
verabreicht werden. Allerdings ist sie nicht gratis.
Diese immunstimulierende Spritze wirkt
gegen alle infektiösen Krankheiten – man muss sich diesen Satz auf der Zunge zergehen lassen. Ebola? HIV? Tollwut? Masern? Alles kein Problem, das Paracelsus-Jaukerl macht’s wieder gut. Alternativ-Journalismus vom Feinsten.
Scharen von Standard-Lesern wollen mehr wissen. Und Redakteur Michael
Simoner legt nach. Im heutigen Standard also: Wachsendes Interesse an
Alternativ-Spritze. Da erfährt der wissbegierige Leser, dass es sich um
eine Immunstimulation mit homöopathischer Kombination handelt, die z.B.
von einem Dr. Helge Richter (Praxis für Psychosomatische Energetik)
angeboten wird und in der Schweizer Paracelsus-Klinik für
Naturheilkunde entwickelt wurde. Sogar zwei der Inhaltsstoffe werden
genannt: Vitamin-B-Komplex-Präparate und Grippe-Nosode Injeel.
So detaillierte Information in einer Qualitätszeitung, sowohl online
als auch gedruckt, das ist schön. In erster Linie freilich schön für
die Kassa von Dr. Richter. Vielleicht kann der sich bald ein zweites
Skalarwellengerät zulegen, oder ein perpetuum mobile.
Ist die Berichterstattung des Standard auch für den Rest der Menschheit
von Nutzen? Zur Beantwortung dieser Frage könnte man zwei völlig
konträre grundsätzliche Standpunkte einnehmen.
Nimmt man den klassisch homöopathischen Standpunkt ein, so könnte man sagen:
a) Die Behandlung mittels Alternativ-Spritze ist nicht individualisiert, es handelt sich also nicht um “echte” Homöopathie nach Hahnemann.
b) Die Inhaltsstoffe sind teils aus mehreren homöopathischen
Arzneimitteln gemischt, es handelt sich also um Komplexmittel, nicht um
“echte” Homöopathika.
c) Die Spritze soll prophylaktisch wirken. Die klassische Homöopathie kennt
keine Prophylaxe, sie behandelt stets Symptom-orientiert.
d) Selbst die British Homeopathic Association warnt: There is no evidence to show that homeopathic medicines can be used
instead of vaccination. […] There are no proven homeopathic substitutes for immunisation. Some people have suggested using ‘nosodes’ (homeopathic preparations of the ‘bugs’ which cause the diseases). There is currently no evidence that nosodes are effective in humans.
Nimmt man dagegen den wissenschaftlich-medizinischen Standpunkt ein, so könnte man vielleicht auf folgendes hinweisen:
e) Die Spritze enthält eine Mischung aus pharmakologischen und
niedrigverdünnten homöopathischen Wirkstoffen, von denen teilweise
umfangreiche Nebenwirkungen bekannt sind.
f) Es sind keinerlei klinische Studien bekannt, die eine etwaige
prophylaktische Wirkung der Spritze belegen würden. Ebensowenig weiß
man über mögliche Nebenwirkungen.
g) Der Erfinder der Spritze und Begründer der “Schweizer Biologischen
Medizin“, Dr. Thomas Rau, verfolgt einen Therapieansatz, der sich
ausschließlich auf unwissenschaftliche bis esoterische
alternativmedizinische Lehren stützt: Neuraltherapie, Anthroposophische
Medizin, Homöopathie, Homotoxikologie, Elektroakupunktur nach Voll,
Sanum-Therapie, etc.
h) Dr. Rau propagiert seine “Biologische Medizin” ausdrücklich nicht
als ergänzend zur wissenschaftlichen Medizin, sondern als primären
Therapieansatz. Dass dieser Ansatz in klinischen Studien regelmäßig scheitert, gibt er nicht nur unumwunden zu – er ist sogar stolz darauf:
When biological medicine is subjected to the “scientific” methods commonplace today, with their statistical studies and controllable rules, it will always fail. This gives the appearance that holistic treatments do not act well. But we need to be proud of the fact that biological medicine often fails these studies, because the rules of these studies are wrong.
Zusammenfassend lässt sich wohl sagen: Sowohl vom Standpunkt der Homöopathie als auch vom Standpunkt der wissenschaftlichen Medizin aus betrachtet ist die “Alternativ-Spritze” abzulehnen. Meiner persönlichen Einschätzung nach handelt es sich dabei um dubiosen Humbug. Qualitätsjournalismus sollte sich am wissenschaftlichen Standpunkt orientieren. Der Standard bzw. sein Redakteur Michael Simoner allerdings vertreten hier weder den wissenschaftlichen noch den homöopathischen Standpunkt, sondern den des Herstellers. Zum Schaden der Leser.
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