An Herrn
Univ.-Prof. Dr. Heinz Engl,
designierter Rektor der Universität Wien
CC an:
Prof. Dr. Andreas Kellner,
Direktor des Universitätssportinstituts Wien
Falk Pastner, MBA,
Leiter des Veranstaltungsmanagements der Universität Wien
Sehr geehrter Herr Rektor Engl,
Im kommenden Wintersemester wird am USI der Universität Wien wie schon in vergangenen Semestern wieder ein Kurs mit dem Titel KINESIOLOGIE – BRAIN GYM angeboten. Weiters ist auf der an der Universität Wien stattfindenden Studierenden-Messe UniLeben für den 6. Oktober 2011 ein Workshop mit dem Titel Kinesiologie – unterstützende Übungen fürs Leichter Lernen angekündigt.
Als Absolvent der Universität Wien und als Vorstand der Gesellschaft für kritisches Denken möchte ich gegen die Abhaltung dieser beiden Veranstaltungen protestieren.
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Das in den 1980ern von dem Amerikaner Paul Dennison entwickelte Brain Gym ist eine markenrechtlich geschützte Spielart der sogenannten Edu-Kinestetik oder Edukinesiologie, welche wiederum eine Variante der Angewandten Kinesiologie ist, eines alternativmedizinischen Verfahrens. Das Brain Gym Konzept beruht auf der Annahme, dass die Durchführung 26 spezieller Bewegungsabläufe sowie das Drücken und Ziehen bestimmter Punkte am Körper zur Stimulierung des “Energieflusses”, zur Reaktivierung “abgeschalteter Gehirnareale” und zu einer “besseren Verbindung” der beiden Hirnhälften führen, was dabei helfe, die kognitive Leistungsfähigkeit dauerhaft zu erhöhen und Lernschwierigkeiten zu überwinden. Brain Gym hat sich vielerorts bereits an Schulen und in der Lehrerfortbildung etabliert.
Wie die Angewandte Kinesiologie und die Edu-Kinestetik ist Brain Gym wissenschaftlich nicht anerkannt. Mehrere große kontrollierte Studien konnten keinerlei Belege für eine spezifische Leistungssteigerung durch Brain Gym Übungen erbringen. Die Versprechungen des Brain Gym Konzepts gelten daher heute als wissenschaftlich widerlegt.
Darüber hinaus sind die von Brain Gym Proponenten angeführten Erklärungen über die Wirkungsweise der Bewegungsmuster und Druckpunkte pseudowissenschaftlich bis esoterisch und der Idee von Aufklärung und Bildung diametral entgegengesetzt.
Bereits 1997 kam das Bayerische Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in einer Untersuchung zu folgendem Schluss:
Bei eingehender Beschäftigung mit der Literatur zeigt sich schließlich, dass der Ansatz der Edukinesiologie einen eindeutig esoterischen Hintergrund hat. Es wird nicht nur die Beseitigung von Lernbehinderungen, sondern Veränderungen der Persönlichkeit […] angestrebt. Die Verbreitung derartiger Denkmodelle darf nicht staatlich gefördert werden; es darf nicht der Eindruck entstehen, es handle sich dabei um seriöse, allgemein anerkannte Wissenschaft.
Befremdend ist außerdem die Art und Weise, wie die Methode derzeit, in Verbindung mit nicht immer seriösen Vermarktungsstrategien, Verbreitung erfährt und bei Betroffenen nicht erfüllbare Hoffnungen weckt.
2008 verbreitete die britische NPO Sense About Science gemeinsam mit der British Neuroscience Association und der britischen Physiological Society eine Warnung vor Brain Gym, welches sie als “pseudowissenschaftlich” und auf einem “bizarren Verständnis der Körperfunktionen” beruhend kritisierten. Der Psychiater und Wissenschaftsjournalist Ben Goldacre widmete Brain Gym ein ganzes Kapitel seines Bestsellers Bad Science und qualifizierte es als Humbug. Die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften weist darauf hin, dass Edu-Kinestetik “im Widerspruch zu den Erkenntnissen der modernen Neurobiologie und Psychologie” stehe.
2009 beurteilte die Pädagogin Barbro Walker, die über Edu-Kinestetik promoviert hat, Brain Gym als “esoterisch” und “wissenschaftlich unhaltbar” und warnte vor einer “Irrationalisierung und Trivialisierung pädagogischer Realität”. 2010 wurde Brain Gym in einem Working Paper der Arbeiterkammer Wien der Esoterik zugerechnet und als “unsinnige Gymnastik” bezeichnet. 2011 zitierte DIE ZEIT in dem Artikel “Magie fürs Hirn” den Sektenbeauftragten des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes, Wolfgang Hund, mit den Worten: “Die Edu-Kinestetik war der erste Großangriff einer esoterischen Ideologie auf den Erziehungsbereich“.
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Pseudowissenschaft und Esoterik in Form einer aus kommerziellen Gründen verbreiteten und unsinnige “Hirngymnastik” namens Brain Gym / Edu-Kinestetik / Kinesiologie haben an einer österreichischen Universität m.E. nichts verloren, sondern schaden lediglich derem Ansehen. Daher appelliere ich an Sie, Herr Rektor, sich dafür einzusetzen, dass die beiden inkriminierten Veranstaltungen aus dem Angebot der Universität Wien gestrichen werden!
Hochachtungsvoll,
Univ.-Prof. Dr.Dr. Ulrich Berger
Gesellschaft für kritisches Denken
Update 16.09.: Rektor Engl hat angekündigt, fachliche Meinungen dazu einzuholen.
Update 17.09.: Der auf der Studierenden-Messe UniLeben für den 6. Oktober 2011 angekündigte Workshop “Kinesiologie – unterstützende Übungen fürs Leichter Lernen” wurde offenbar gestrichen. Er findet sich nicht mehr in der Liste der Workshops und die Webseite ist tot.
Update 18.10.: Der von mir kritisierte USI-Kurs wurde – zumindest auf dem Papier – überarbeitet und entschärft. “Brain Gym” und “Edu-Kinestetik” sind aus der Beschreibung rausgeflogen. Zum Vergleich: alte Version – neue Version.
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