Zuerst war ich nur voll der staunenden Anerkennung: Am Samstag hatte Ivan Origone in Vars laut ORF.at mit 254,958 km/h einen neuen Weltrekord im Speed-Ski aufgestellt. Doch als ich den ORF-Bericht genauer studierte, stutzte ich. Dort ist nämlich zu lesen:
Nur knapp über fünf Sekunden brauchen die Athleten, um auf eine Geschwindigkeit von 200 km/h zu beschelunigen, vergleichbar mit einem Formel-1-Auto.
Und auch eine Bildunterschrift in dem Artikel wiederholt:
In knapp fünf Sekunden von null auf 200 km/h
Nicht der Tippfehler in “beschelunigen” ließ mich stutzen, sondern die verblüffende Beschleunigung, die hier behauptet wurde: In “knapp über 5 Sekunden” auf 200 km/h? Seit meiner Schulzeit hatte ich nämlich die Faustregel verinnerlicht, dass ein Körper im freien Fall pro Sekunde etwa 35 km/h an Tempo aufnimmt – im Vakuum, wohlgemerkt. Das bedeutet, dass Origone selbst im freien Fall nach 5 Sekunden nur 175 km/h schaffen würde, und selbst bei großzügiger Auslegung von “knapp über fünf” als fünfeinhalb Sekunden maximal 193 km/h. (Wer’s genauer haben will, rechnet v = 3,6*9,81*t und erhält damit eine Endgeschwindigkeit von 194,2 km/h nach 5,5 Sekunden freien Falls im Vakuum.) Mehr geht laut Newton nicht.
Nun ist die Piste in Vars zwar recht steil, mit 98%, also etwa 44,4°, an der steilsten Stelle aber doch nicht wirklich senkrecht. Und dann kommt ja noch ein kleines bisschen Reibung und ein großes bisschen Luftwiderstand dazu. Das heißt, Origone muss nach 5,5 Sekunden deutlich langsamer als 200 km/h gewesen sein. Eine schnelle Überschlagskopfrechnung ergab mir ein theoretisches Maximum von rund 140 km/h. Um die 200er-Marke zu knacken braucht auch der windschlüpfrigste Speed-Skier jedenfalls mindestens 8 Sekunden, und realistischerweise noch deutlich mehr.
Meiner Verärgerung über die schlecht recherchierte Übertreibung im ORF machte ich in einem sarkastischen Posting auf Facebook Luft, wo ich diese Überschlagsrechnung vorexerzierte. Womit ich dabei nicht gerechnet hatte, war, dass in den Kommentaren alsbald ein junger Mann auftauchte, der den ORF-Artikel ernsthaft gegen meine Kritik verteidigte und darauf bestand, es seien vielleicht 6 oder 6,5 Sekunden statt “knapp über 5”, aber dann hätte Origone die 200 km/h bestimmt geknackt. (Ich habe ihn daraufhin scherzhaft einen “Newton-Leugner” genannt. Ich glaube, er ist jetzt beleidigt.)
Da der Herr seine eigenartige Physik sehr hartnäckig gegen eine zahlenmäßig große Übermacht anderer Kommentatoren verteidigte, entspann sich eine kleine Kommentarschlacht, in die sich schließlich überraschend mit Valentin Münzer auch der Speed Ski Referent des ÖSV einklinkte. Dieser meinte,
Der “Rundungsfehler” is so wie ich das jetzt beurteilen kann im Frankreich passiert. Ich glaube man hat 6,5sek gemeint statt 5,5sek. Aber dazu in den nächsten tagen mehr. Mein eigen Beobachtung war das am Samstag während dieses Finale etwas Rückenwind war.
Während der Newton-Widerleger daraufhin triumphierend allen eine Wette um eine Kiste Bier anbot (er lässt, wenn ich das richtig verstanden habe, nur “saubere Messungen” als Entscheidungsgrundlage gelten, keine graue Theorie…), kam ich umso mehr ins Grübeln. Denn wenn selbst der ÖSV-Speedskireferent nur spekulieren kann, woher diese Zeitangaben kommen, wie soll dann Newton anständig widerlegt werden?
Also wer hat diese Zeitangaben verbrochen? Ich habe ein wenig recherchiert und hier ist mein vorläufiger Zwischenbericht…
Die (vorläufige) Rekordliste der Speed-Ski Newton-Widerleger:
Rang 9: weltbildung.com vom 15.04.2001: “0-200 km/h in 11 Sekunden”
Rang 8: derstandard.at vom 25.03.2002: “in weniger als elf Sekunden von 0 auf 200”
============= (NEWTON-Grenze) =============
Rang 7: speedskiing.at in den News vom 19.01.2013: “Von 0 auf 200km/h in 7 Sekunden”
Rang 6: Valentin Münzer auf Facebook am 28.03.2016: “Ich glaube man hat 6,5sek gemeint statt 5,5sek [für 200 km/h]“
Rang 5: focus.de vom 19.03.2012: “in sechs Sekunden von null auf 200 km/h.”
Rang 4: Vars Youtube-Kanal, Video (0:59 bis 1:04) vom 26.03.2016: “0 – 200 KM/H in 5.5 SEC”
BRONZE: sport.orf.at vom 26.03.2016: “knapp über fünf Sekunden … auf … 200 km/h”
SILBER: Ex-Weltrekordler Simone Origone auf focus.de vom 20.10.2014: “Ich komme in fünf Sekunden von null auf 200 Stundenkilometer.”
GOLD: fenstergucker.com vom Feb. 2010: “Von 0 auf 200 Km/h in 3,5 bis 4,5 Sekunden”
Meine Vermutung übrigens: Niemand hat jemals genau gemessen, nach wieviel Sekunden die 200 km/h erreicht werden. Die realistischen Werte (Rang 9 und 8 oben) sind vermutlich geschätzt, die Newton-Widerleger (bis Rang 7) haben sich ihre Zahlen aus den Fingern gesogen bzw. voneinander abgeschrieben. Und der Redakteur des Goldmedaillengewinners war vermutlich besoffen…
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