Das hat man immer schon so gemacht, das war noch nie anders, das gehört so!
Die jahrhundertealte Weisheit unserer Vorfahren, die sorgfältig gesammelten Erfahrungen alter Völker, die mühsam erarbeiteten Erkenntnisse ganzer Kulturen können doch wohl nicht irren. Kein Zweifel: Am besten ist es, sich immer auf das zu verlassen, was lange erprobt, als gut befunden und mit Sorgfalt überliefert wurde.
Es ist kein Wunder, dass gerade in der Esoterik oft mit Tradition argumentiert wird: Wünschelruten werden als uralte Weisheit angepriesen, Runen sollen unsere Lebensprobleme lösen, und der Aromatherapeut mit Reiki-Spezialdiplom versichert, dass seine Techniken auf jahrtausendealten fernöstlichen Lehren beruhen. Lauter wohlerprobte Traditionen, die einfach richtig sein müssen – sonst hätten sie sich ja nicht so lange halten können.
Die gute alte Zeit
Dann müssen doch offenbar auch andere Traditionen ihre Richtigkeit haben, die sich besonders lange bewährt haben, oder? In ihrer liebevollen Weisheit behandelten unserer Vorfahren über Jahrtausende Frauen als Menschen zweiter Klasse und hielten sie von Bildung und wichtigen Berufsmöglichkeiten fern. Dass Kinder von Eltern und Lehrern geprügelt werden, ist altherbegrachtes Kulturgut. Der Aderlass wurde über Jahrhunderte als Therapie für viele verschiedene Krankheiten eingesetzt und von vielen Ärztegenerationen für gut befunden. Staatliche Herrschaftsverhältnisse waren jahrtausendelang viel einfacher zu regeln als heute: Wenn einfach der Sohn des Herrschers sein Nachfolger wird, spart man sich mühsame Wahlen.
Tradiert und verordnet – nicht hinterfragt und erprobt
Die Idee, das Altbewährte für wahr und richtig zu halten, hat natürlich einen gewissen Reiz. Leider ist diese Idee aber sehr oft falsch. Traditionen, alte Überlieferungen und Vorschriften überleben nämlich meist nicht deshalb, weil sie auf rationale Weise getestet, überprüft und für gut befunden wurden, sondern weil sie sich für bestehende Machtverhältnisse als nützlich herausstellen, weil es bequem ist, keine eigenen Ideen erarbeiten zu müssen, oder einfach weil es sich um nette, sympathische Gedanken handelt, die sich leicht mit einem wohligen Gefühl im Bauch von Generation zu Generation weiterreichen lassen, ohne dass sie jemals irgendjemand tatsächlich überprüft hat.
Vieles wird besser
Tatsächlich hat aber viel von dem, was uns heute lieb und teuer ist, mit Tradition nichts zu tun. Menschenrechte, Demokratie, Pressefreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, Kampf gegen Rassismus und Homophobie – nichts davon hat eine lange Tradition. Im Gegenteil: all das musste (und muss noch immer) mühsam gegen Leute erkämpft und verteidigt werden, die ihrerseits auf das Hochhalten von Traditionen pochen. Die Wissenschaft, die immer hinterfragt und weiterentwickelt, ist das institutionalisierte Aufweichen von Traditionen. Nichts muss man glauben, nur weil es schon lange da ist.
Auch alter Dreck stinkt
„Aber zumindest lebten die Leute damals im Einklang mit der Natur”, hört man dann oft. „Sie lebten nachhaltig, ohne giftige Chemie und ohne Umweltschäden zu verursachen.” Unfug! Gerade Umweltprobleme haben eine lange Tradition. Im antiken Rom wurde das Trinkwasser durch Bleirohre verseucht, in England brachte schon um 1300 das Verbrennen von Kohle ernste Probleme für die Luftqualität, in Südeuropa holzte man in der frühen Neuzeit Wälder für den Schiffsbau ab und zerstörte dadurch ganze Landstriche. Es stimmt schon: Unsere moderne Technologie hat uns mehr Möglichkeiten in die Hand gegeben, unsere Umwelt zu schädigen, und wir haben solche Fehler schon viel zu oft begangen. Aber die Wissenschaft lässt uns solche Probleme auch verstehen und lösen.
Kurzlebig und jung
Selbst das Positive, das wir ganz intuitiv mit dem Begriff „Tradition” in Verbindung bringen, ist eigentlich erstaunlich neu: Wir feiern Weihnachten auf eine ganz bestimmte Weise, die uns heimelig traditionell erscheint – aber noch vor einigen Generationen wurde Weihnachten völlig anders gefeiert. Wir schwören, dass die Oma den weltbesten Schweinsbraten macht – doch die guten alten Familienrezepte sind historisch betrachtet recht jung: Vor zweihundert Jahren haben sich unsere Vorfahren ganz anders ernährt als wir. (Die so wunderbar traditionsreiche Wiener Küche etwa stammt zu einem großen Teil aus dem neunzehnten Jahrhundert.)
Traditionen sind eine tolle Sache. Wir kommen ohne sie nicht aus – und wir sollten auch gar nicht versuchen, auf sie zu verzichten. Ganz automatisch erfinden wir sogar unsere eigenen Traditionen: Vielleicht ein jährlich wiederkehrendes Nachbarschafts-Grillfest, vielleicht ein tolles Sommer-Erdbeerbowle-Rezept, vielleicht eine hübsche Winterdekoration, die wir jedes Jahr ans Fenster hängen. Menschen brauchen Traditionen, und das ist gut so. Aber ob etwas wahr oder falsch ist, das lässt sich nicht durch Tradition entscheiden.
Wenn uns also jemand erklärt, dass seine jahrtausendealten Chakren-Lehren oder Kristallauflege-Riten uns sicher heilen werden, weil sie eine so alte Tradition haben, wenn uns jemand sagt, dass man in der Landwirtschaft auf mittelalterliche Methoden zurückgreifen soll, weil das besser für die Umwelt ist, wenn uns jemand ermahnt, dass gleichgeschlechtliche Paare nicht heiraten dürfen, weil das gegen die uralte überlieferte Tradition der Ehe verstoßt, dann sollten wir ihm nicht mit ehrfürchtigem Respekt begegnen, sondern lieber daran denken: Auch Dummheit hat eine lange Tradition. Diese Tradition werden wir nicht ausrotten, aber wir können neue Traditionen begründen. Es wird Zeit.
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