Es ist traurig. Die Gefahr, die von radioaktiven Stoffen ausgeht, ist eine ernste Sache, die man mit wissenschaftlichem Sachverstand diskutieren sollte. Leider wird das viel zu selten gemacht. “Atomkraft” scheint zum Kampfbegriff geworden zu sein, der sofort jedes rationale Denken ausschaltet. Heute wurde in Wien (wieder einmal) ein Bericht über die Auswirkungen der Tschernobyl-Katastrophe veröffentlicht. Er präsentiert derart horrorfilmverdächtige Daten, dass natürlich alle Medien darüber schreiben. Mit Wissenschaft hat das aber deshalb noch lange nichts zu tun.
Tschernobyltote in Mitteleuropa?
Tausend bis zweitausend zusätzliche Krebstote soll es alleine in Österreich geben, sagen Ian Fairlie und Global 2000. (Dass sich Fairlie als “independent Consultant” bezeichnet und nicht etwa als Wissenschaftler an einer anerkannten Universität tätig ist, sei nur nebenbei erwähnt – das heißt schließlich noch lange nicht, dass er falsch liegt.) Insgesamt spricht Fairlie von 40.000 Krebstoten durch die Tschernobyl-Katastrophe.
Wie werden solche Zahlen erhoben? Natürlich gibt es keine wissenschaftliche Möglichkeit, bei einzelnen Krebserkrankungen herauszufinden, ob sie von der Tschernobyl-Katastrophe ausgelöst wurden oder auch ohne die Katastrophe ausgebrochen wären. Man könnte epidemiologisch untersuchen, wie stark nach der Tschernobyl-Katastrophe die Häufigkeit bestimmter Krankheiten angestiegen ist. Daraus könnte man dann statistisch hochrechnen, wie viele dieser Krankheitsfälle durch die Tschernobyl-Katastrophe ausgelöst worden sind. Das klingt sinnvoll – hat aber nichts damit zu tun, wie Fairlie und Global 2000 an ihre Abschätzungen kommen.
Würde man die Daten auf diese epidemiologische Weise ermitteln, käme man nämlich bei der Anzahl der österreichsichen Tschernobyltoten auf eine langweilige Null. Selbst in den am schwersten betroffenen Gebieten in Belarus und der Ukraine sind keine erhöhten Krebsraten nachgewiesen – mit Ausnahme von Schilddrüsenkrebs, insbesondere bei Kindern. Es gibt einzelne Publikationen, die auch bei anderen Krebsarten leichte Steigerungen zu finden behaupten (zum Beispiel unter den sogenannten “Liquidatoren”, den Aufräumarbeitern nach der Katastrophe), aber das ist umstritten. In Mitteleuropa kursierende Panikmeldungen (alle Liquidatoren tot, Missbildungen bei Kindern) sind nicht haltbar.
Doch darum geht es hier gar nicht – in den Panikmeldungen von heute steht die Frage im Mittelpunkt, wie viele Menschen hier bei uns in Mitteleuropa an der Tschernobyl-Katastrophe gestorben sind. Hier aus epidemiologischen Daten irgendwelche Effekte herauszufiltern, ist hoffnungslos, das wissen auch Ian Fairlie und Konsorten.
Das LNT-Modell
Daher wenden sie gerne eine andere Taktik an: Sie erheben, wie viel radioaktives Material frei wurde und versuchen daraus zu berechnen, wie viel Menschen dadurch geschädigt wurden. Dabei wird ein sogenanntes “Linear-No-Threshold”-Modell (LNT) angewandt: Man geht davon aus, dass es einen linearen Zusammenhang zwischen Strahlenbelastung und Todesrate gibt. Angenommen, man weiß, dass bei einer bestimmten Dosis 50% der betroffenen Menschen sterben. Dann geht man nach dem linearen Modell davon aus, dass bei einer hundertfach kleineren Dosis auch die Todesrate hundertmal kleiner ist – also 0.5%. Wenn man das zu winzigen Dosen fortsetzt, wird die Todesrate zwar winzig, aber wenn gleichzeitig eine gewaltige Anzahl von Menschen von dieser Mini-Dosis betroffen sind, kann sich das trotzdem noch zu einer stattlichen Anzahl von Opfern hochmultiplizieren. Genau das hat Ian Fairlie gemacht. Weite Teile Europas waren nach Tschernobyl von geringen Menden radioaktiver Strahlung betroffen, man kann daher viele Millionen Menschen in die Rechnung einbeziehen. Selbst wenn die Belastung winzig war, kommt man nach diesem Modell auf tausende Opfer.
Doch ist das wissenschaftlich redlich? In hohen Dosis-Bereichen gibt es tatsächlich einen annähernd linearen Zusammenhang zwischen Dosis und Wirkung. Man hat vor allem anhand der Atombomben-Opfer in Japan viel darüber gelernt. Doch dort war die Radioaktivität natürlich um Größenordnungen höher. Anzunehmen, dass die lineare Beziehung zwischen Dosis und Wirkung auch bei minimalen Belastungen gilt, ist reine Mutmaßung. Wenn eine bestimmte Menge Kochsalz einen Menschen umbringt, töte ich dann statistisch auch einen Menschen, wenn ich mit derselben Menge an Salz tausenden Leuten eine Suppe koche?
Die Wahrheit ist: Wir wissen nicht, wie sich minimale radioaktive Dosen auswirken. Es gibt Grund zur Annahme, dass unser Körper mit radioaktiver Strahlung unterhalb einer gewissen Grenze gut zurechtkommt – schließlich sind wir ununterbrochen natürlicher Strahlung ausgesetzt. Die kosmische Strahlung, Radon aus der Erde oder auch Radioaktivität des Gesteins unter uns beeinflusst unseren Körper ständig. Die zusätzliche Dosis, die wir in Mitteleuropa durch den Unfall von Tschernobyl abbekommen haben ist viel kleiner, als die Dosis, die wir aus ganz natürlichen Quellen jedes Jahr abbekommen. Mehr noch: Die zusätzliche Tschernobyl-Strahlenbelastung ist sogar geringer als die regionalen Unterschiede in der Strahlenbelastung. Ob in der Ukraine ein Reaktor explodiert oder nicht hat auf die Strahlenbelastung eines Mitteleuropäers mittelfristig einen geringeren Einfluss als sein Wohnort.
Nun kann man sagen: Wenn wir nicht garantieren können, dass minimale Strahlungsdosen harmlos sind, dann sollten wir vom Schlimmsten ausgehen und maximale Vorsicht walten lassen. Man könnte Fairlies Berechnungen als Worst-Case-Szenario betrachten, nachdem man sich aus purer Vorsicht richten kann. Doch dann müssten wir uns konsequenterweise ganz anders verhalten. Wenn wir nämlich so argumentieren, müssten wir sofort alle Erdgeschoß- und Kellerwohnungen räumen, in denen Radon nachweisbar ist, wir müssten das Granithochland evakuieren, in denen die natürliche Strahlenbelastung höher ist als anderswo, wir müssten Transatlantikflüge verbieten. Wir müssten Bananen aus den Supermärkten verbannen, sie enthalten nämlich radioaktives Kalium. Niemand geht davon aus, dass die minimale Belastung durch eine Banane ein Problem sein könnte – aber naiv nach dem Linearen No-Threshold-Modell berechnet, kommt es im Jahr weltweit zu tausenden Bananentoten.
Bleiben wir bei den Tatsachen!
Tatsache ist, dass Tschernobyl eine furchtbare Katastrophe war. Zahlreiche Menschen sind daran gestorben – die WHO und die IAEO haben sehr detaillierte Studien dazu gemacht und kamen zu einer Abschätzung von mehreren tausen Menschen, die direkt oder indirekt durch Tschernobyl zu Tode kamen. Das ist eine gewaltige Zahl. Jeder einzelne Tote ist eine Tragödie. Jedes einzelne Kind mit Schilddrüsenkrebs (auch wenn zum Glück viele geheilt werden konnten) ist eine persönliche Katastrophe.
Umweltschutzorganisationen könnten bei den Fakten bleiben – sie sind schlimm genug und eignen sich zweifellos als Argumente gegen Kernenergie. Ich halte es für eine Beleidigung der Leute, die tatsächlich unter der Reaktorkatastrophe zu leiden hatten, wenn man heute so tut, als müsse man mit zweifelhaften statistischen Methoden die Katastrophe größer aufbauschen als sie tatsächlich war. Wenn Umweltschutzorganisationen dieses schreckliche Unglück auf künstliche Weise statistisch aufbauschen, dann tun sie so, als wäre die offizielle wissenschaftliche Faktenlage noch nicht dramatisch genug. Wieso? Reichen tausende Tote denn nicht? Müssen es wirklich hunderttausende sein?
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