Man kann auf der Suche nach dreisten politischen Lügen freilich noch weiter zurückgehen: Die Bedeutung von Österreichs prägender Herrscherdynastie, den Habsburgern, geht maßgeblich auf eine eindeutige Lüge zurück: Rudolf IV ließ 1358 das „Privilegium Maius“ fälschen, eine Reihe von Urkunden, die ihm und seiner Familie weitreichende Rechte zuerkennen sollten. So wurde aus dem Herzogtum Österreich durch die Hand geschickter Fälscher ein Erzherzogtum, und Rudolf IV konnte sich zu den bedeutendsten deutschen Herrschern zählen, auf Augenhöhe mit den Kurfürsten.
Das Fälschen von Urkunden wurde im Mittelalter nicht wirklich als unmoralische Straftat empfunden. Solche Fälschungen kamen so oft vor, dass man sie fast schon als gewöhnliches Instrument der mittelalterlichen Politik betrachten kann. Nicht nur weltliche, auch kirchliche Herrscher bedienten sich dieses Mittels ganz ohne Skrupel. So wurde um das Jahr 800 eine Urkunde fabriziert, die angeblich aus dem vierten Jahrhundert stammen sollte: Eine Schenkungsurkunde, in der Kaiser Konstantin dem Papst die Oberherrschaft über Rom, Italien und in weiterer Folge auch die Westhälfte des Römischen Reichs gewährte. Die Idee der „Konstantinischen Schenkung“, die es in Wahrheit nie gegeben hatte, beeinflusste die europäische Politik für Jahrhunderte.
Vieles wird besser
„Fake News“ für politische Zwecke gab es also schon immer. (Für unpolitische wohl auch – etwa der „Great Moon Hoax“ von 1835, als in der New York Sun behauptet wurde, man habe fledermausartige Mond-Menschen entdeckt.) Dass Lügen heute mit modernen Medien rascher verbreitet werden können als je zuvor ist wahr, aber das bedeutet nicht, dass frühere Generationen ehrlicher und wahrheitsliebender waren. Das Entsetzen über „Fake News“, das wir derzeit spüren, ist eigentlich ein gutes Zeichen: Lügen rufen heute wenigstens massive Ablehnung hervor.
Wenn wir besorgniserregende Entwicklungen beobachten, etwas die Tendenz mancher Politiker, wissenschaftliche Erkenntnisse wie Klimawandel oder Evolution abzulehnen, dann sollten wir laut dagegen protestieren. Aber wir sollten es nicht als Symptom einer gesellschaftlichen Entwicklung verstehen, die langfristig in den Abgrund führt, sondern vielleicht eher als ärgerliche Rückschläge auf einem historischen Weg der Aufklärung, der insgesamt doch in die richtige Richtung weist.
Noch vor wenigen Jahrzehnten war es in Mitteleuropa noch völlig selbstverständlich, Frauen mit biologistischen Argumenten zu minderwertigen Wesen zu erklären, die sich lieber auf die Kinder als auf den Beruf zu konzentrieren hatten. Bis in die Siebzigerjahre durften Frauen in Österreich und Deutschland nur dann arbeiten, wenn der Ehemann es erlaubte. Homosexualität wurde als widernatürlich abgelehnt und bestraft.
Selbst abartig grauenhafte Entgleisungen wie die Hexenverfolgungen liegen historisch betrachtet nicht weit zurück: Die gefürchteten Scheiterhaufen, an denen man bedauernswerte Frauen (und manchmal auch Männer) ohne jede Faktenbasis ermordete, loderten nicht etwa im Mittelalter, sondern in der Neuzeit. Noch 1782 wurde in der Schweiz eine Frau als Hexe hingerichtet.
Wer sich die Vergangenheit schönredet, verklärt eine Zeit, in der Kinder geschlagen wurden, in der Rassismus ganz normal war, in der Demokratie als schwache, wenig zukunftstaugliche Regierungsform belächelt wurde.
Es geht voran, wenn auch mit Mühe
Ich bin überzeugt davon, dass die Welt in den letzten Jahrzehnten aufgeschlossener, toleranter, faktentreuer und rationaler geworden ist. Damit will ich unsere heutigen Probleme nicht verharmlosen: Wenn politische Wirrköpfe gegen Religionsgruppen hetzen, Frauenrechte beschneiden oder sich über Behinderte lustig machen, dann ist das inakzeptabel. Aber es ist keine Rückkehr in ein finsteres Mittelalter. Manches, was uns heute schockiert, wäre vor nicht allzu langer Zeit noch ziemlich normal gewesen. Das heißt keineswegs, dass wir aufhören sollten, darüber schockiert zu sein. Aber den Untergang der Menschheit sollten wir deswegen nicht hereinbrechen sehen.
Wir müssen nur gemeinsam dafür sorgen, dass solche Entgleisungen in Zukunft tatsächlich als anachronistische Dummheiten gesehen werden, nicht als Vorboten einer echten politischen Zeitenwende. Am Ende müssen Fakten, rationales Denken und aufgeklärter Humanismus gewinnen. Immer. Das wird nicht leicht, das war aber auch in der Vergangenheit nie leicht. Ich bin zuversichtlich, dass uns das immer wieder gelingen wird. Wir schaffen das.
Kommentare (325)