Zum ersten mal habe ich im Herbst 2015 auf der Neutron Delivery-Konferenz am ILL-Forschungsreaktor in Grenoble von sog. homöopathischer Abschirmung gehört und fand die Idee auf Anhieb sehr toll und nachahmenswert. Grundsätzlich geht es dabei um die Problematik, hoch energetische Neutronen effizient abzuschirmen und Mensch und Material vor den Auswirkungen zu schützen.
Das Hauptproblem bei der Abschirmung von Neutronen ist, dass sie in einem Material absorbiert werden müssen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Neutron absorbiert wird, ist für jedes Isotop unterschiedlich, aber im Allgemeinen gilt, dass die Wahrscheinlichkeit extrem abnimmt, je höher die Energie eines Neutrons ist. Hochenergetische Neutronen gehen also auch durch typische Absorbermaterialien wie Cadmium, Gadolinium oder Bor durch wie ein heißes Messer durch Butter. Um sie dennoch zu stoppen, muss man sie erst einmal in ihrer Energie reduzieren (dies bezeichnet man als “heruntermoderieren”), bevor sie dann absorbiert werden können. Dies geschieht hauptsächlich durch elastische Stöße in wasserstoffhaltigen Materialien, wie z.B. Plastik oder eben Wasser, wobei durch die annähernd gleiche Masse von Neutronen und Wasserstoff eben die meisten Energie pro “Stoß” übertragen werden kann. Erst, wenn sie auf diese Art Energie abgebaut haben, können sie effektiv absorbiert werden und typischerweise braucht es eine Reduktion von 10.000.000 eV auf < 1 eV um eben 6-7 Größenordnungen, um die Absorbtionsmechanismen effektiv nutzen zu können.
Während dieses Moderationsprozesses über 10 Größenordnungen wird die Richtungsabhängigkeit der Neutronen völlig randomisiert und sie verhalten sich nur noch wie Ping-Pong-Bälle in einem Nadellabyrinth auf dem Jahrmarkt. Alles ist bestens, wenn ich einfach nur etwas abschirmen möchte – dann baue ich einfach nur genug Material drum herum und keine Neutronen kommen heraus. Das Problem entsteht jetzt, wenn ich z.B. an einem Forschungsreaktor Neutronen für wissenschaftliche Experimente extrahieren möchte. Diese muss ich mit einem Kanal aus dem Inneren entziehen, nachdem sie heruntermoderiert worden sind, aber noch bevor sie absorbiert wurden. Wenn ich allerdings einen Kanal baue, egal ob zur Neutronenextraktion oder für Gas und Elektroleitungen, dann entsteht dort ein Kamin- oder Streamingeffekt, durch den Neutronen aus der sicheren Abschirmung herausgezogen werden.
An der Trennlinie von PE-Abschirmung zu Luft oder Vakuum ist die Wahrscheinlichkeit annähernd 50/50, dass ein Neutron wieder in das Vakuum gestreut wird und wenn nun ein Kanal aus zwei (oder mehr) Abschirmungen gebaut wird, wirkt dies wie eine Art Transportmechanismus für Neutronen aus der Massivabschirmung hinaus.
Dieser Effekt war zwar aus der Reaktortechnik schon länger als Streaming-Effekt bekannt, aber die Neutronenstreuer haben ihn beim Bau der ESS-Spalationsquelle neu erfunden und nennen ihn nun Albedo-Transport. Da bei der Spallation mitunter auch Neutronen im Energiebereich von 100 MeV produziert werden (im Gegensatz zu den max. 10 MeV bei Kernspaltung) ist der Effekt hier auch noch mal eine Größenordnung prominenter und verdient sich somit eine eigene Gegenmaßnahme… die Homöopathische Abschirmung.
Frei nach dem Grundsatz “weniger Abschirmung ist mehr Abschirmung” lässt die homöopathische Abschirmung den Neutronen Platz um sich zu entfalten. Dabei heißt “Platz sich zu entfalten” in dem Kontext die Möglichkeit, sich herunter zu moderieren, bevor es absorbiert wird um den Albedo-Transport dazu zu nutzen, die Neutronen von unserem Detektor oder Gefährdungsgebiet wegzuführen. Sprich in zwei Szenarien, in denen ich die gleiche Menge an PE zur Abschirmung zur Verfügung habe, sollte ich, wie hier gezeigt, am besten “Entlastungskanäle” und “Auslaufzonen” bauen, um mir nicht durch die Abschirmung Probleme einzuhandeln, die ich ohne sie nicht hätte.
Falls ich beliebig viel Abschirmung, aber nur einen begrenzten Platz zur Verfügung habe, dann muss ich mir schwer überlegen (sprich mit Monte-Carlo-Simulationen simulieren), ob ich nicht durch eine Verdünnung der Abschirmung ihre Wirkung potenzieren kann, denn über einen wichtigen Faktor habe ich bis jetzt gar nicht geredet. Wenn ein Neutron in meiner Abschirmung absorbiert wird, dann regt es dadurch den absorbierenden Atomkern so stark an, dass ein Gamma-Quant produziert wird, welches wiederum kein Problem damit hat, das Plastik zu verlassen, da es von Wasserstoff – als Element mit niedriger Kernladungszahl – kaum beeinflusst wird.
In manchen Situationen kann es also wirklich sein, dass weniger Abschirmung den Schutz erhöht und selbst die Potenzierung unter die Nachweisschwelle (ergo keine Abschirmung) kann in einigen Fällen besser sein als eine Abschirmung, die die Teilchen zum Objekt kanalysiert, dass wir schützen wollen.
Disclaimer: Das ganze Prinzip gilt insbesondere für Neutronen und darüber hinaus bestenfalls für Partikelstrahlung und hoch energetische Gammas, die per Kern-Photoeffekt wiederum freie Neutronen erzeugen können. Im Hausgebrauch gilt weiterhin: Mehr Abschirmung ist besser als weniger.
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