So, ich hab jetzt Krebs und wer ist schuld dran? Kommt deine Leukämie von der Arbeit mit Radioaktivität? Das sind zwei eher wichtige Fragen, die in meiner kleinen Welt hier auf der Isolierstation herumfliegen und an mich herangetragen werden. Da ich heute meinen offiziellen Termin mit der Arbeitssicherheit hatte, möchte ich die Gelegenheit nutzen und das ganze Thema im Umfang meines momentanen Kenntnisstandes mal zu beleuchten. Dabei heißt momentaner Kenntnisstand natürlich nur, was ich gerade so als Informationen zur Verfügung habe und mir neben der aktuell zeitraubenden Behandlung zusammenreimen kann. Wenn in einem Jahr Gutachten und Gegengutachten geschrieben werden, dann sieht die Informationslage sicherlich anders aus, aber ich möchte eben die Gelegenheit nutzen und einen Snapshot vom aktuellen Stand zu erstellen und den ein wenig für zukünftige Überlegungen zu reservieren.
Radioaktivität und ionisierende Strahlung verursacht Krebs. Ich arbeite seit ca. 5 Jahren mit Strahlung und habe nun Krebs bekommen. Hat die Strahlung nun den Krebs verursacht? Die klare Antwort auf diese Frage ist: Vielleicht, wir wissen es nicht und werden es auch niemals eindeutig herausfinden können. Als ich vor mehr als 2 Jahren hier bei Scienceblogs angefangen hatte, einen meiner ersten Artikel darüber geschrieben, warum es unmöglich ist eine bestimmte Krankheit auf eine bestimmte Art der Bestrahlung zurückzuführen. Der Artikel selber hat nichts von seiner Relevanz verloren und besagt, in einem Satz zusammengefasst, dass jeder Krebs und jede Strahlenexposition ein stochastischer Prozess ist und somit bestenfalls Wahrscheinlichkeiten angegeben werden können, dass jemand den Jackpot erwischt und irgendwo Krebs auftaucht. Das ist halt wie mit dem Lungenkrebs und dem Rauchen. Manche Raucher leben ewig und bekommen niemals Krebs und andere, die nie eine Zigarette anpacken, landen mit 60 auf der Krebstation.
So ist das jetzt auch eigentlich mit mir… mit einer wichtigen Ausnahme. Das gilt nur, wenn wir davon ausgehen, dass bei mir nur stochastische Prozesse im Bereich niedriger Dosen ionisierender Strahlung ablaufen und keine hohen Dosen involviert sind, denn die gibt es eben auch. Der Liquidator von Tschernobyl, der einen Klumpen Reaktorbehälter in der Hand gehalten hatte, welcher mit 500Watt Gamma-Strahlung in der Gegend herumstrahlt wird sicherlich Krebs bekommen und der Krebs wird sicherlich von dem Klumpen Reaktorbehälter herkommen. Das ist so unvermeidlich wie das Amen in der Kirche. Nun habe ich natürlich niemals solch wahnsinnige Manöver durchführen müssen und mich immer an die Strahlenschutzvorschriften gehalten. Die einzige Möglichkeit, wie es bei mir zu solch einem Effekt hätte kommen können, wäre ein Unfallszenario.
Der Möglichkeit für so ein persönliches Unfallszenario können wir uns dann auch wieder professionell nähern und uns die Möglichkeiten angucken. Ich gehöre zu überwachten Personen im Strahlenschutz nach Kategorie A. Das heißt, ich habe einen Strahlenpass, in dem (unter anderem) festgehalten wird, wie viel ionisierende Strahlung ich monatlich und bei besonderen Arbeiten abbekomme. Dabei wird die Menge der ionisierenden Strahlung durch Personendosimeter ermittelt, die ich in Kontrollbereichen die ganze Zeit „am Mann“ tragen muss und die am Ende eines jeden Monats amtlich ausgewertet werden. Unsere Personendosimeter detektieren Röntgen, Gamma, Beta und Neutronen. Die Präzision ist zwar nicht so hoch wie bei echten Detektoren/Zählrohren, aber sie sind extra für große Messbereiche ausgelegt und eben dafür da, Langzeitüberwachung zu gewährleisten. In der Regel kommen die Dosimeter auch mit einem „Messergebnis unter der Messgrenze“ vom Amt zurück, weil die untere Messschwelle nicht erreicht worden ist. In unserem ganzen Institut bin ich immer einer der wenigen, der bei seinen Experimenten überhaupt einen messbaren Wert einfährt. Ein Unfall, also eine besonders große Strahlenexposition, würde von den Personendosimetern mit nahezu absoluter Sicherheit festgestellt werden. In Köln hatte einmal ein Kollege von mir einen Dosimeter-Unfall, wo das Dosimeter (nicht die Person) beim Transport eine große Menge Strahlung abbekommen hatte und viel Arbeit in die Aufklärung des Zwischenfalls gesteckt werden musste. Sowas fällt immer auf. Während unserer Experimente haben wir auch mal eines dieser Personendosimeter als Ortsdosimeter zweckentfremdet und an einem Ort im Sperrbereich angebracht, um dort die maximale Ortsdosis zu messen. Auch diese sehr hohe Ortsdosis hat das Gerät bestens verkraftet und später zuverlässig mitgeteilt. Einen Unfall mit einer plötzlich auftauchenden Strahlung kann ich also mit ziemlicher Sicherheit ausschließen.
Bleibt noch Inkorporation, also die Aufnahme von radioaktiven Teilchen in den Körper. Seit Jahren predige ich hier ja, dass die Aufnahme von Radioaktivität in den Körper viel viel schlimmer ist als ionisierende Strahlung, die von außen auf den Körper wirkt. Das ist natürlich immer noch so und wir müssen uns die Frage stellen, ob ich nicht mal irgendwo bei meinen ganzen Arbeiten Kontakt mit radioaktiven Stoffen hatte, die dann in meinen Organismus gekommen sind. Das ist auch gar nicht mal so unwahrscheinlich, denn ich hatte immer mal wieder Umgang mit offenen radioaktiven Stoffen in der ein oder anderen Form. Natürlich benutzt man dabei entsprechende Schutzausrüstung und es gibt Kontrollen vor und nach den Kontrollbereichen, die darauf ausgelegt sind, verschleppte Kontamination festzustellen. Das wird wahrscheinlich echt Arbeit werden, wenn ich überall mal durchgehen muss, bei welcher Arbeit ich welche offenen Stoffe gehandhabt habe und ob dabei irgendwo etwas mal hätte passieren können. Grundsätzlich gibt es zwar jährliche arbeitsmedizinische Untersuchungen, auch auf solche Stoffe, aber leider können die auch niemals das ganze Spektrum abdecken und absolute Sicherheit geben.
Ich habe ja öfter mal geschrieben, dass ich bei meinen Experimenten meist mehr Strahlung abbekomme als der Durchschnitt in meinem Institut. Das gilt mehr oder weniger für meine gesamte Arbeitszeit, aber unter dem Strich komme ich auch „nur“ auf ca. 1,5mSv/Jahr, während meine Kollegen eben so bei 0,5mSv/Jahr liegen. Das ist auch nicht wirklich der Rede wert und sicherlich keine Quelle für irgendeinen deterministischen Effekt.
Im Zuge der geregelten deutschen Bürokratie hatte ich heute einen Termin in der Arbeitsmedizin, die eben das legale Prozedere begleiten, betreiben und initiieren. Dabei habe ich die inkompetenteste Ärztin und Person seit meiner Einlieferung kennen gelernt. Obwohl ich nun ja schon seit ein paar Jahren lang hier Erfahrungen sammel, wie man Menschen Radioaktivität und ionisierende Strahlung erklärt, habe ich es offenbar nicht fertig gebracht dieser Akademikerin im persönlichen Gespräch Dinge wie „radioaktive Isotope“ oder „Teilchenstrahlen“ näher zu bringen und nach einer Stunde redete sie immer noch davon, dass „ich ja mit Röntgen arbeiten würde“ ohne es auch nur ansatzweise zu schaffen auf meine individuelle Situation eingehen zu können. Außerdem hat sie es auch mit Googles Hilfe nicht geschafft herauszufinden, welche Berufsgenossenschaft bei uns zuständig ist. Ich bin heil froh, dass diese Person offensichtlich keine Patienten behandeln und nur Formulare ausfüllen darf. Langer Rede kurzer Sinn, mittel bis langfristig werden sich wohl meine Krankenkasse und die Berufsgenossenschaft streiten, ob und in welchem Maße meine Leukämie irgendwas mit meiner Arbeit mit ionisierender Strahlung zu tun hat. Diesen Prozess finde ich schon jetzt tierisch interessant und werde mich da nach Möglichkeit intensivst einmischen. Gutachten, Fallbeispiele und Studien zu zitieren und auszuwerten ist ja gerade mein ureigenstes Interessensgebiet, dass ich hier seit Jahren verfolge… selbst wenn es nicht mit mir persönlich zu tun hätte. Ich frage mich, ob man als Fachgutachter in seinem eigenen Fall auftreten kann… ich glaube ich werde sehr viel Spaß damit haben.
Abschließend möchte ich natürlich noch mal laut überlegen, OB überhaupt irgendjemand an irgendwas schuld sein muss. Da kann ich von einem „ethischen“ Standpunkt eigentlich ganz klar sagen: Nein. Eine Schuldfrage ist mir eigentlich total egal. Das hilft mir nicht bei meiner Genesung, das hilft nicht meinen Freunden, Bekannten und Verwandten und auch niemandem anderen, der in Zukunft vielleicht mal in die gleiche Situation kommt. Dafür ist die Situation viel zu einmalig und exotisch. In meiner kleinen Welt stehe ich an dem Punkt, wo ich entspannt sagen kann: „Ist halt so und wir gucken, dass wir das Beste draus machen.“ Das ist recht komfortabel und ich fühle mich da sehr gut mit. Allerdings wird es mich nicht davon abhalten hier als „Strahlenphysiker mit Leukämie“ mit einzigartigem Enthusiasmus in die diversen Atomkraft-, Strahlenangst- und sonstigen Diskussionen hineinzuspringen und das letzte Bisschen aus meiner neuen Besonderheit herauszuschlagen. Ich bin mal gespannt, wie viele Leser hier mich dabei begleiten werden.
- Des Strahlenphysikers Leukämie Tagebuch
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