Ich durfte raus. Knapp eine Woche ist es her, seit ich meinen letzten Eintrag geschrieben habe und davon habe ich doch tatsächlich vier Tage in Freiheit verbringen dürfen. Das heißt konkret, dass meine Granolozytenwerte so gut waren, dass ich nicht mehr auf die Isolierstation angewiesen bin und zumindest teilweise unter Leute kann. Für meinen Krankheitsverlauf ist das nicht zwangsweise ein gutes Zeichen, denn der Sinn den Chemo-Therapie ist es ja gerade, das Immunsystem so weit herunterzuprügeln, dass man danach von Neuem starten kann, aber ich will mich nur ein wenig beschweren und ansonsten die Tage mit Freunden und Familie genießen. Das habe ich auch ausführlich getan (zweimal grillen) und daher melde ich mich erst jetzt, wo ich wieder im Krankenhaus aufgenommen worden bin, bei euch zurück.

Die Chemo-Therapie für meine Form der ALL läuft bislang nach Plan und neben einigen Kleinigkeiten wie Abgeschlagenheit, Wassereinlagerungen und der allgemeinen Kondition eines 90jährigen aufgrund des Hämoglobinmangels habe ich noch keine größeren Nebenwirkungen feststellen müssen. Nach Plan heißt bei mir nach dem Behandlungsplan der GMALL-Studie, an der ich teilnehme und die mir (und meinen lokal behandelnden Ärzten) die konkreten Schritte vorgibt (also welche Chemo-Therapie zu welcher Zeit). Die Entscheidung an dieser (einer) Studie teilzunehmen war für mich persönlich ziemlich selbstverständlich (yay, Forschung und Wissenschaft) als auch bei meinem konkreten Krankheitsbild recht obligatorisch. Denn diese Form der ALL ist mit einer einstelligen Zahl an Krankheitsfällen pro Krebszentrum pro Jahr so selten, dass jedes Ärzteteam daran interessiert ist, mit einer Zentraleinrichtung zusammenzuarbeiten, die viele Fälle betreut und damit auf entsprechende Erfahrungswerte zurückgreifen kann.

Auch wenn ich generell deutlich für eine solche Studie und den damit verbundenen Plan bin, geht er mir gerade aktuell etwas auf den Senkel. Denn es geht mir gut. Mein Körper verträgt bislang alles recht gut, was wir nach ihm geworfen haben und Leber, Milz und Nieren spielen noch bestens mit. Das heißt auf gut Deutsch, dass wir mMn ruhig noch eine Schippe Kohlen aufs Feuer legen und das Tempo erhöhen könnten. Viel hilft viel… und so. Natürlich ist der rationalen Seite meines Verstandes auch klar, dass nicht immer der schnellste Weg auch der beste oder effizienteste ist und wenn ich mich auf diese Stimme in meinem Kopf zu sehr verlasse durchaus an Orten auskommen kann, wo ich gar nicht hin wollte.

Ich bin jetzt gerade dabei mir die einzelnen wissenschaftlichen Publikationen meiner und anderer Studien zu dem ganz konkreten Thema meiner Leukämie durchzulesen. Das gestaltet sich wesentlich komplexer, als ich ursprünglich gedacht habe und von der Lektüre physikalischer Fachartikel gewohnt bin. Erstens sind wesentlich mehr Artikel hinter recht obskuren Paywalls verborgen, die mir in dieser Form noch nicht untergekommen sind. Das ist vor allem ein Problem, weil die, zum Teil in deutscher Sprache verfassten, Artikel dann noch nicht mal ihren Weg auf die einschlägigen internationalen Science-Piraterie Seiten geschafft haben. Wie rückständig. Als letztes Resort muss ich vielleicht so weit gehen und mir einzelnen Artikel über die Bibliothek des Forschungszentrums per Fernausleihe schicken lassen, ungewohnt.

Zweitens sind diese Artikel schon durchaus anders geschrieben als ich es gewöhnt bin. Das liegt natürlich am fremden Fachgebiet, ist aber nichts, mit dem man sich nicht arrangieren könnte. Bislang scheinen es meine Ärzte auch eher positiv aufzunehmen, dass ich mich so stark in meinem Behandlung einmische. Mal gucken, wie lange das anhält.

SpritzenDie Schwestern und Pfleger haben sich auch mit mir arrangiert und wir haben den Deal, dass ich nur die unwichtigen Dinge selber tun darf. Oder wenn ich zu Hause bin, dann darf ich mir auch meine Spritzen selber setzen. Ich bekomme sogar die “Erwachsenenversion” links im Bild und muss nicht die “ich habe keine Ahnung”-Version (rechts) benutzen. Das halte ich für ein belastbares Gentleman-Agreement, denn mit dem Personal sollte man sich wirklich nicht anlegen, wenn man noch so viele Tage auf der Station vor sich hat, wie ich.

Einen Rückschlag musste ich übrigens schon verkraften. Ganz am Anfang habe ich einen PICC-Katheter statt eines ZVKs bekommen und da hat sich mittlerweile die Vene mit einem Trombus zugesetzt, so dass der Katheter wieder gezogen und der Trombus mit Heparin aufgelöst werden muss. Daher wollen die Ärzte eine der Chemo-Therapien, die ein starkes Tromboserisiko induziert und eigentlich für heute geplant war, erst mal aussetzen und auch nur gegebenenfalls nachholen. Das finde ich ja nicht so toll, denn mir geht es ja auch schon ohne diese Auslassung zu langsam. Naja, für den Augenblick habe ich mich noch mal breitschlagen lassen. Morgen habe ich sowieso eine geplante Knochenmarksbiopsie als Verlaufskontrolle und dann können wir uns überhaupt erst mal angucken, wo ich derzeit konkret stehe. Wenn sich dann aber herausstellt, dass wir bislang keinen guten Fortschritt gemacht haben, muss ich definitiv noch mal mit meinen Ärzten über das Tempo sprechen und  auch zur Disposition stellen aus der Studie auszusteigen, wenn es da keine Option gibt den Behandlungsplan etwas… aggressiver zu gestalten.

Tja, ansonsten komme ich in letzter Zeit wieder vermehrt dazu Mails von Leuten aus dem Internet zu beantworten, die sich mit “Trivialfragen” an mich wenden. Dabei meine ich mit “Trivialfragen” explizit solche, die der üblichen Scienceblogsleserschaft nicht über die Lippen kommen würden, aber offenbar doch da draußen im Lande sind. Da wird gefragt, ob Blumenerde radioaktiv ist, man Gäste aus der Ukraine auf der Couch schlafen lassen oder mit der Ex-Frau eines amerikanischen Soldaten (der Uranmunition verwendet hat) intim werden kann. Auf der einen Seite finde ich es nett, dass es offenbar viele Leute gibt, die mich für würdig befinden, solche Fragen im Internet zu beantworten… auf der anderen Seite frage ich mich, warum sowas überhaupt notwendig ist. Ich meine, woher wissen diese Leute, dass ich sie nicht anlüge? Womit verdiene ich, in ihren Augen, mehr Vertrauen als ein x-beliebiger Kerl auf der Straße? OK, ich versuche das Vertrauen, das offenbar in mich gesetzt wird, nicht zu missbrauchen, aber das ist doch nicht selbstverständlich… oder? Ich meine, unterm Strich bin ich doch auch einfach nur ein weiterer Typ, der im Internet diskutiert  und Dumfug labert. Naja, wie auch immer. Ich hoffe, dass ich die Tage noch ein paar reguläre Nucular-Artikel herausbringen kann, aber aktuell bin ich eben immer ein wenig daran gebunden, wieviel Sauerstoff mein Blut meinen grauen Zellen zur Verfügung stellen will und ob ich es schaffe, meinen Laptop in den Aufenthaltsraum zu tragen. Ich hege die gute Absicht, produktiv zu sein und was am Ende draus wird, werden wir sehen.

 

 

 

 

Kommentare (21)

  1. #1 RPGNo1
    21. Juni 2018

    @Tobias Cronert
    Ich sehe, dass SEINE nudligen Anhängsel dich bereits berührt haben. Möge ES dir auch bei Rückschlägen Kraft geben.
    Ramen!

  2. #2 Spritkopf
    21. Juni 2018

    Denn es geht mir gut. Mein Körper verträgt bislang alles recht gut, was wir nach ihm geworfen haben und Leber, Milz und Nieren spielen noch bestens mit.

    Ich drücke alle Daumen, dass das so bleibt.

    Lustiges Foto übrigens. Hast du dafür den Koch bestechen müssen?

  3. #3 tomtoo
    21. Juni 2018

    @Spritkopf
    Wenn du bei 45 Grad Plus so ein bischen Schwitzkasten als Bestechung bezeichnen möchtest ; )

  4. #4 Tim
    21. Juni 2018

    Interessant, ich kann Deine Erfahrungen fast 100%ig bestätigen. Auch ich fand damals, dass es ruhig schneller gehen könnte.

    Aber keine Sorge, die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch, dass Du das in ein paar Wochen nicht mehr findest. 🙂

  5. #5 Tim
    21. Juni 2018

    Interessant, ich kann Deine Erfahrungen fast 100%ig bestätigen. Auch ich fand damals, dass es ruhig schneller gehen könnte.

    Aber keine Sorge, die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch, dass Du das in ein paar Wochen nicht mehr findest. 🙂

  6. #6 roel
    21. Juni 2018

    @Tobias Cronert “Erstens sind wesentlich mehr Artikel hinter recht obskuren Paywalls verborgen, die mir in dieser Form noch nicht untergekommen sind. ”

    Da möchte ich gerne versuchen, zu helfen. Wenn du einfach Titel und Autor postest, schaue ich mal, was ich machen kann.

  7. #7 Eisentor
    21. Juni 2018

    Ich meine, woher wissen diese Leute, dass ich sie nicht anlüge? Womit verdiene ich, in ihren Augen, mehr Vertrauen als ein x-beliebiger Kerl auf der Straße?

    Es gibt zwischen den totalen Freaks/Spinnern und den Wissenschaftlern noch eine sehr breite Masse von Menschen die relativ normal sind. Diese haben Fragen und fragen dann eben jemand von dem sie denken das er sich damit auskennt. Und ein Strahlenphysiker erscheint mir bei Fragen zu Radioaktivität doch eine sehr gute Wahl.

  8. #8 strahlenbiologe
    21. Juni 2018

    Moin Tobias, schön das es dir bisher so gut geht. drück dir weiter die daumen.
    falls du mal eine zweite meinung zu einem der paper haben möchtest die du dir gerade reinziehst, zöger nicht mich anzusprechen.
    lg

  9. #9 Fluffi
    21. Juni 2018

    Ich finde Fragen ziemlich cool, zeigen sie doch dass diese Leute deutlich mehr Phantasie haben als so mancher etablierte Wissenschaftler.

  10. #10 Wizzy
    21. Juni 2018

    Die Frage “[ob man] […] mit der Ex-Frau eines amerikanischen Soldaten (der Uranmunition verwendet hat) intim werden kann.”, ist genial 😀

  11. #11 tomtoo
    21. Juni 2018

    Blumenerde? Naja man muss den Balkonkasten nur ausreichend lang mit Blaukorn düngen, und ruck zuck hat man seinen eigenen Reaktor. Wobei Cadmium ja eigentlich hinderlich ist? Fragen über Fragen. ; )

  12. #12 Omnivor
    Am 'Nordpol' von NRW
    21. Juni 2018

    Ich meine, woher wissen diese Leute, dass ich sie nicht anlüge?

    Woher weißt Du, dass dich die Frager nicht verarschen?

    OK, eine Bekannte wurde gefragt, was sie als anständiges Mädchen mit diesen Kerlen aus dem Fersehen will, als sie bei einer Familienfeier erwähnte, dass sie einen Bachelor hat.

  13. #13 Karl Mistelberger
    22. Juni 2018

    > Bislang scheinen es meine Ärzte auch eher positiv aufzunehmen, dass ich mich so stark in meine Behandlung einmische. Mal gucken, wie lange das anhält.

    Der Arztberuf ist ein schwieriger.

    Auf der einen Seite hat ein Mediziner nur unvollständige Information zur Verfügung. Er muss also heuristisch vorgehen.

    Auf der anderen Seite ist der Patient. Was der denkt und wie der tickt ist auch nicht so einfach herauszufinden.

    Ein fähiger Arzt wird also immer froh darüber sein, wenn sein Patient mit ihm effizient und offen kommuniziert.

  14. #14 nihil jie
    22. Juni 2018

    Schön durchhalten kluger Mann.. die Welt braucht dich noch 😀

  15. #15 Peter K.
    22. Juni 2018

    Ich hoffe, Du genießt die freien Tage !!!

  16. #16 noch'n Flo
    Schoggiland
    22. Juni 2018

    @ Tobias:

    Wenn sich dann aber herausstellt, dass wir bislang keinen guten Fortschritt gemacht haben, muss ich definitiv noch mal mit meinen Ärzten über das Tempo sprechen und auch zur Disposition stellen aus der Studie auszusteigen, wenn es da keine Option gibt den Behandlungsplan etwas… aggressiver zu gestalten.

    Ganz schlechte Idee. Für die zeitliche Abfolge der Behandlung gibt es – auch in Studien – gute Gründe. Vor allem die Nutzen-Risiko-Abwägung. Natürlich kann es sein, dass Du das verschärfte Tempo problemlos mitmachst, aber woher willst Du das im Voraus wissen? Und wenn der Versuch schiefgeht und Du schwere Schäden, die vermeidbar gewesen wären, davonträgst, was dann? Wer hat etwas davon?

    In der Krebstherapie braucht man vor allem eines, und das ist Geduld. Ohne diese wirst Du an Deiner Krankheit kaputtgehen, wenn nicht körperlich, dann psychisch [1]. Klar, Dir fällt natürlich auch jeden Tag die Decke auf den Kopf, das muss man erstmal verkraften. Aber investiere Deine aufgestaute Energie nicht dafür, gegen diejenigen anzukämpfen, die Dir nur helfen wollen. Das geht schief, 100%ig!

    Ungeduldig Du bist, junger Padawan.

    [1]
    Solltest Du diesbezüglich später noch Hilfe brauchen, schreib mir gerne eine eMail. Ich habe seinerzeit eine der ersten Reha-Fachabteilungen für Psychoonkologie in Deutschland mitaufgebaut, kann Dir da gerne Tips geben und Dich weitervermitteln.

  17. #17 Gustav
    Koeln
    23. Juni 2018

    In welchem Städten gibt es denn solche Psychoonkologie?

  18. #18 zimtspinne
    23. Juni 2018

    Psychoonkologen dürfte es mittlerweile in jeder Stadt geben, in Tumorzentren in jedem Fall. Und genau dort sollte man sich eh behandeln und zerpflücken lassen….

    Tobias,
    in einer Studie wirst du wesentlich schlechtere Karten haben, etwas zu verändern, beschleunigen, verschärfen…. höchstens entschleunigen eher noch, wenn deine Werte das nicht mitmachen.
    Wenn da jeder reinquatschen könnte, kämen sie ja nie zu Potte….
    Machst du eigentlich weiterhin noch ein wenig Sport?
    Oder darfst du nicht? Habe schon häufig gehört, dass Chemo besser verkraftet wird, Nebenwirkungen abgemildert bei regelmäßiger sportlicher Betätigung, auch wenns erstmal Überwindung kostet, physisch und psychisch.
    Gilt ja auch inzwischen als ebenso wichtige Säule in der Krebstherapie wie Chemo und Bestrahlung, wobei ich glaube bisher nur bei Brustkrebs erforscht und bezogen auf die Rezidivrate/-prävention. Sowie natürlich allgemein Krebsrisiken (auch Zweiterkrankung!)

  19. #19 Tobias Cronert
    25. Juni 2018

    Danke für die ganzen Kommentare und auch die netten Angebote bzgl. Papern usw.

    Wie ihr wahrscheinlich gemerkt habt, habe ich nicht geantwortet. Ich hatte dann doch schon ein paar Probleme mit dem Schreiben und kann mich gerade erst wieder dazu aufraffen. Es ist nichts wildes, aber … macht sich shcon bemerkbar.

    Sport mache ich leider aktuell nicht wirklich, denn alle meine normalen Sportarten waen immer an besonderen Orten (Fitnesstude, Sportplatz Wald etc. pp.) wo ich jetzt nicht mehr wirklich hinkomme. Entweder muss ichmir da etwas zulegen, was ich auch zu Hause/auf der Station machen kann oder hoffen noch mal raus zu können.

    Hier auf der Station gibt es zwar Physio, die ist aber dafür gedacht betlegrige Patienten wieder aus dem Bett zu bekommen bzw. den absoluten Muskelabbau zu verhindern. Das ist nicht das, wasich als Sport bezeichne …. wobei bei meinem momentanen Hämoglobingehalt jede Anstrengung direkt zu einem Puls von 150 führt *g*

    Ich werde mich bemühen nicht so ungeduöldig zu sein … aber (blinder) Aktionismus ist irgendwie ein sehr wesntlicher Teil meiner Person 😉

  20. #20 noch'n Flo
    Schoggiland
    26. Juni 2018

    @ Zimti:

    Psychoonkologen dürfte es mittlerweile in jeder Stadt geben, in Tumorzentren in jedem Fall.

    Schön wär’s…

  21. #21 Kokee Thornton
    26. Juni 2018

    Hehe, schön, das flying Spaghettimonster ist mir schon eine geraume Weile nicht mehr im Netz begegnet ^^ Weiterhin allet jute, der Herr