Haare, wer braucht schon Haare, nur Feiglinge brauchen Haare! Also eigentlich gibt es bei mir nichts Besonderes zu berichten. Meine Chemo-Therapie verläuft nach Plan, die Ergebnisse von Knochenmarks- und Lumbalpunktion bestätigen das allgemeine Bild, das wir von den täglichen Blutwerten auch bekommen und damit nähere ich mich Schritt für Schritt meinem nächsten Ziel, dem Abschluss der Initialtherapie und dann der anschließenden Stammzellenspende. So weit, so langweilig, wenn ich nicht mal wieder ein paar Tage von der Isolierstation nach Hause gedurft hätte, um meine Haare zu verlieren.
Wenn man an Krebs und/oder Strahlenkrankheit denkt, dann ist der Haarausfall meist die erste Sache, die vielen Leuten im Kopf herumspukt. Das ist halt ein klares äußerliches Zeichen, dass man eindeutig assoziieren und auch schön in Film, Fernsehen und Theater darstellen kann. Nachdem sich nun meine wirren Keratinfortsätze entschieden haben lieber den Abfluss der Dusche und mein Kopfkissen statt meinem schnöden Haupt zieren zu wollen, habe ich kurzen Prozess gemacht und den Vögeln etwas überlassen, mit dem sie ihre Nester auspolstern können. Da es aber ja bekanntlicherweise egal ist, wie ein Physiker aussieht (also solange er nicht “modisch” ist, was ja das Image zerstören würde), kann ich diesen Artikel leider nicht mit Beauty-Tips füllen, sondern muss darüber schreiben, warum denn überhaupt sowohl beim Krebs als auch bei der Strahlenkrankheit die Haare ausfallen… und das wäre dann auch wieder für die nucularen Scienceblogs interessant.
Chemo-Medikamente, sog. Zytostatika, sind quasi Zellgifte, die z.b. dazu führen, dass sich DNS-Stränge vernetzen und somit bei der Zellteilung nicht verdoppeln. Idealerweise werden die Zellen durch diese Vernetzung so irreparabel geschädigt, dass die Zelle abstirbt und vom Körper entsorgt werden kann.Was ganz ähnliches passiert auch bei den Doppelstrangbrüchen, die ja laut meinem Geschreibsel hier, das ideale Ziel der Strahlentherapie sind, wenn es darum geht einen Tumor mit ionisierender Strahlung zu zerstören. Der Grund, warum sowohl Krebs- als auch Strahlenkrankheitspatienten ohne Haare herumlaufen ist von diesem, recht ähnlichen, Wirkmechanismus aber noch mal einen guten Schritt durch die Zellbiologie entfernt, der mir als Physiker immer wieder mit einem bitteren Beigeschmack aufstößt.
Handelsüblich behauptet man jetzt, dass Zytostatika und Strahlentherapie die Zell-DNS von allen Zellen schädigt, aber vor allem die Zellen, die sich eines schnellen Zellstoffwechsels und einer schnellen Verdopplungsrate bemühen, auch zerstört werden, während “normale” Gewebezellen vor der nächsten Teilung genug Zeit haben sich zu reparieren. Daher kommt es dann auch, dass sowohl bei Chemo- als auch bei Strahlenschäden als erstes schnell wachsende Epithelzellen (u.a. Haarwurzel und Schleimhaut) dran glauben müssen und auch Horn- und Bindehaut des Augen zu den strahlengefährdeten Bereichen gehört (… und ich wie ein schwangeres Mädchen Folsäurenahrungsergänzungspräparate bekomme). Auch wenn ich das symptomatisch nachvollziehen kann, ist mir dieser Sprung vom mikroskopischen Wirkmechanismus zum makroskopischen Phänomen zu viel und ich kann ihn nicht richtig verstehen. Das liegt natürlich daran, dass ich kein Biologe bin und von Zellchemie nur so viel Ahnung habe, wie mir meine Schulbildung mit auf den Weg gegeben hat, aber trotzdem… da muss ich dann halt den Biologen und Medizinern vertrauen.
Um den Einwurf von der Seitenlinien dann auch schon mal direkt selbst zu tätigen: Ja, Strahlung und Chemo-Therapien bekämpfen nicht nur Krebs, sondern sie verursachen auch welchen bzw. erhöhen das Risiko für ebenjenen. Das passiert halt dann, wenn eine Zelle nach DNS-Schäden nicht im Zelltod landet, sondern sich unkontrolliert vermehrt… sowas passiert dann auch wieder eher mit schnell wachsenden Zellen als mit normalen. Das Muster ist jetzt nicht so furchtbar schwer zu durchschauen, mag aber durchaus angezweifelt werden. In meiner Strahlenschutzausbildung hatten wir z.B. einen sehr tollen Ausflug in die Zellbiologie gemacht. Unter anderem mit der Fragestellung aus der LNT-Theorie ob es bei diesen mikroskopischen Wirkmechanismen nicht zwangsweise einen Treshold geben müsse und der Erkenntnis, dass manche Krebszelle über mehr und bessere Reparaturmechanismen verfügen als gesunde Zellen und somit das ganze ungerichtete “haut sie alle platt, Gott wird die Seinen schon erkennen” ad absurdum führt.
Nunja, das ist es, was mich zur Zeit so umtreibt, während ich an meinem nächsten Chemo-Tropf hänge und mit der freien Hand in die Tastatur haue. Ich will mein neu gewonnenes bzw. wieder aufgefrischtes Wissen auch in naher Zeit mal in vernünftige Artikel zum Thema “Zellschäden durch ionisierende Strahlung” gießen, aber das ist halt leider schon ein wenig schwieriger als hier einfach frei von der Seele zu schreiben. Zum Abschluss hier noch ein paar Bilder der Krebszellen aus meinem Knochenmark vor und nach der Chemo. Wenn alles klappt, dann sind die beim nächsten Mal schon nicht mehr unter dem Mikroskop, sondern nur noch anhand ihrer Gene nachzuweisen. Ich halte euch auf dem Laufenden.
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