Ein rundes Jubiläum für das vielleicht wichtigste und bekannteste Werk der Soziologie des Wissen. Vor genau 50 Jahren veröffentlichte der amerikanische Wissenschaftshistoriker Thomas S. Kuhn die “Struktur wissenschaftlicher Revolutionen”. Ich will mal versuchen die entscheidenden Gedanken dieser ungeheuer dichten und für ein Soziologiewerk wunderschön geschriebenen ca. 200 Seiten kurz und bündig so zusammenzufassen: Kuhn analysiert die Vorraussetzungen und Strukturen wissenschaftlichen Arbeitens. In dieser soziologisch-historischen Analyse arbeitet er als zentralen Begriff die Paradigmata wissenschaftlichen Handelns heraus. Obwohl dies sicher der zentrale Begriff in seiner Arbeit ist, bleibt dieser Begriff im Buch selbst eigenartig undefiniert und Kuhn hat sich eher in Schriften danach genauer dazu geäussert, was das eigentlich ist, diese Paradigmata. Nach Wiki hat er insgesamt 34 Definitionsversuche unternommen und schliesslich aufgegeben. Das halt mich natürlich nicht ab:
Paradigmata wissenschaftlichen Arbeitens sind der gesamte Satz an Vorstellungen/Ideen/Mustern/Beispielen, die einer Gruppe von Wissenschaftlern zu einer Zeit gemein ist. Paradigmata bestimmen nicht nur die Interpretationen/Theorien zu den untersuchten wissenschaftlichen Fakten, sondern sie bestimmen auch, was überhaupt ein Fakt ist.
Es handelt sich also um eine Art stillschweigendes Wissen, was selten oder nie voll ausformuliert wird, eben weil es häufig nicht wirklich bewusst in den Köpfen der Wissenschaftler vorhanden ist. Das ist grösztenteils auch gar nicht möglich. Wie soll ein Ptolomäiker auch anders über die Erde sprechen und denken, als eben über den zentralen, festen Punkt des Universums? Es ist ihm schlicht unmöglich einfach mal eine andere Position anzunehmen, die Erde etwa als Planet zu betrachten, weil das eben per definition nicht mehr das gleiche Objekt “Erde” wäre, von dem dann da gesprochen würde.
Kuhn’s Beispiele oder Analogien für diese wissenschaftlichen Paradigmata kommen daher unter anderem aus der Gestaltpsychologie: Irgendwo zwischen dem ursprünglichen Reiz beim Betrachten und einer vollen bewussten Interpretation, dort befinden sich die Paradigmata. Der Wissenschaftler “sieht” eben in einer Nebelkammer alpha-Teilchen, wo der Laie erstmal nur ein Gewirr von Kreisen und Linien wahrnimmt. Ein Ptolomäiker hat eben beim Betrachten des Mondes einen Planeten gesehen. Ein Aristoteliker hat eben beim Betrachten des Pendels wirklich einen gebremsten Fall gesehen (und eben nicht eine potentiell unendliche, periodische Bewegung wie Galilei). Die Paradigmata filtern unsichtbar im Kopf des Wissenschaftlers, was überhaupt wahrgenommen werden kann, was in wissenschaftliches Ergebnis und was in störenden, unbeachteten Noise getrennt wird.
Vexierbild – Charles Allan Gilbert: All is Vanity
Gerade in der Astronomie ist dieser gestaltpsychologische Aspekt besonders deutlich. Was “sieht” der Wissenschaftler, wenn er/sie mit ein und demselben Instrument dasselbe Objekt am Sternenhimmel betrachtet? Was erlaubt ihm seine Paradigma überhaupt als Fakt wahrzunehmen? Sir William Herschel gilt allgemein als der Entdecker des Uranus. Es ist jedoch gut dokumentiert, dass in Wirklichkeit in den 50 Jahren vor Herschels “Entdeckung” der Uranus bereits 17 Mal beobachtet (i.e. “durch ein Teleskop betrachtet”) und natürlich einen Stern “gesehen” wurde. Erst als Herschel bei genauerer Betrachtung und mit einem besseren Teleskop ausgestattet einen Durchmesser dieses Objekts meinte zu erkennen, was für einen Fixstern ja an sich nicht möglich ist, schaute er sich diesen “Stern” etwas genauer an und fand schliesslich eine Bewegung relativ zum Fixsternhimmel. Sofort schloss er also auf ….. einen Kometen. Denn das war es, was das damaligen Paradigma der Himmelsbeobachtung den Forschern anbot: Fixsterne und Kometen. Und kaum hatte sich nun den Astronomen diese vergeichsweise geringfügige Paradigmen-Veränderung angeboten, “sahen” sie kurz nach Herschel plötzlich eine Vielzahl von kleinen Planeten und Asteroiden mit grösztenteils denselben Instrumenten wie in der Vor-Herschel-Zeit. Und das, obwohl diese Objekte meist zu klein waren, um einen Durchmesser wie beim Uranus erkennen zu können. Ihre Erwartungen, ihr Paradigma hatte sich geändert und plötzlich schauten sie mit “anderen Augen” auf die vermeintlich gleichen Fakten. Das Vexierbild, das sich beim Betrachten der wissenschaftlichen “Tasachen” einstellte ist gewissermaszen umgesprungen. Wo sie vorher einen Totenschädel erkannten, sahen sie nun eine sich schminkende Frau, die sich im Spiegel betrachtete (siehe oben).
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