4) Das neue Paradigma erlaubt präzisere, quantitative Berechnungen. Auch hier gilt Vorsicht. Kopernikus versprach zwar eine deutlich präzisere Berechnung des Kalenderjahrs, eine deutlich bessere Berechnung der Planetenpositionen etc.. Aber all das gab es erst mit Keplers Rudolfinischen Tabellen 60 Jahre später. Hurra-Siege eines neuen Pardigmas durch schlicht unschlagbar bessere Ergebnisse sind rar.
5) Das neue Paradigma strahlt eine unwiderstehliche Ästhetik aus, es ist schlicht “schöner”. An sich kein schlechter Punkt aber in so einem nüchternen Unterfangen wie der Wissenschaft niemals ausreichend. Trotzdem spielt dieser Punkt bisweilen eine grosze Rolle. So strahlte Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie von Anfang an eine grosze Anziehung auf den mathematisch geschulten Teil der Physiker aus, obwohl weder wirklich eine Krisensituation in der Wissenschaft bzgl. der von Einstein “gelösten” Fragen herrschte, noch überhaupt eine Erklärung irgendeines beobachtbaren Phänomens in Sicht war. Einstein war selber höchst überrascht, als er tatsächlich und gegen seine Erwartungen die Präzession des Merkur-Perihels quantitativ erklären konnte.
6) Die Voraussage bisher noch unbeobachteter Phänomene. Das kann ein sehr starkes Argument für ein neues Paradigma werden. Kopernikus behandelte Venus und Merkur etc. genau wie die Erde als Planeten. Sie sollten daher Phasen zeigen, die dann aber erst Jahrzehnte später nach dem Bau der ersten Teleskope auch tatsächlich beobachtet wurden. Diese Entdeckung brachte der Kopernikanischen Theorie sehr viele “Konvertiten” ein. Ähnliches lässt sich auch vom obigen Beispiel der Merkur Präzession und der Ackzeptanz der ART sagen.
7) Schliesslich und nicht zu verachten, eine lange Liste von gänzlich ausserhalb der Wissenschaft gelegenen Gründen und Motivationen, die zur Konversion zum neuen Paradigma beitragen können. Für Johannes Kepler war seine heute recht mystisch daherkommende Sonnenverehrung ein entscheidender Punkt , um zum Kopernikaner zu werden. Ganze Nationen “kippten” um, wenn erstmal auch einer ihrer führenden Wissenschaftler bislang kritisch betrachtete Paradigmata übernahm und ackzeptierte. So schwenkte etwa die Wissenschaft in Frankreich zu Beginn des 19ten Jahrhunderts erst dann zur Huygenschen Wellentheorie des Lichts um, nachdem Fresnel seine spektakulären Interferenzexperimente den bereits bestehenden Belegen für den Wellencharakter des Lichts hinzugefügt hatte.
Video: Erläuterung von Kuhns “Scientific Revolutions” in Englisch.
Ist erst solch ein Paradigmenwechsel vollzogen, haben sich die “neuen” Sichtweisen und Konzepte verfestigt und sind somit zu alten geworden, dann kann wieder der Betrieb der “normalen” Wissenschaft aufgenommen werden. Es ist wieder klar was überhaupt eine wissenschaftliche Frage ist und was zur Untersuchung einer solchen Frage überhaupt verwendbare Begriffe sind. Durch die Revolution Lavoisiers etwa wurde die Frage nach dem, was die Metalle den nun gemeinsam haben, schlicht aus der Chemie der Zeit verbannt, während sie zuvor im Rahmen des Phlogiston-Paradigmas nicht nur gestellt, sondern vermeintlich auch so so elegant beantwortet wurde. Dieser Betrieb der “normalen” Wissenschaft besteht nun eben im Kuhnschen Rätsellösen und ist gekennzeichnet durch ein Gefühl des Fortschritts. Wissenschaftler, die im alten Paradigma verharren, mögen einige Zeit nach einem Paradigmenwechsel nur noch als Esoteriker oder “Philosophen” gelten, aber sie hören praktisch per definition auf, noch Wissenschaftler zu sein.
Kuhn ist natürlich auch stark kritisiert worden (etwa hier von Steven Weinberg), insbesondere für seine Betonung der vollständigen Inkomensurabilität verschiedener Paradigmata. So spricht Kuhn etwa von einer anderen Welt, in der die Wissenschaftler vor und nach einem Wechsel der wissenschaftlichen Paradigmata leben, und betont sehr die Unmöglichkeit eines direkten und auf wirklich rationalen Argumenten basierenden Austauschs zwischen Wissenschaftlern, die in verschiedenen Paradigmen operieren. Die Entscheidung zwischen dem alten und dem neuen Paradigma wird bei Kuhn zu einem fast religiösen Akt.
“Derjenige, der ein neues Paradigma in einem frühen Stadium annimmt, musz das oft entgegen den durch Problemlösungen gelieferten Beweisen tun. Das heiszt, er musz den Glauben haben, dasz das neue Paradigma mit den vielen groszen Problemen, mit denen es konfrontiert ist, fertig warden kann, wobei er nur weisz, dasz das alte Paradigma bei einigen versagt hat. Eine Entscheidung dieser Art kann nur aufgrund eines Glaubens getroffen werden“.
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