Ich selbst habe dieses Buch vor etwa 25 Jahren (Darum ist eine eigene Bücherei so wichtig. Ich habe sogar meine “Die drei Fragezeichen” Bücher irgendwo aufbewahrt.) das erste Mal in der deutschen Suhrkamp Ausgabe gelesen und habe es jetzt angesichts des runden Jubiläums ein zweites Mal gelesen. Es ist eines dieser Werke, von denen man so gerne sagt, dass es ein Vorher und ein Nachher gab, als wenn es bei all den anderen nicht ganz so epochalen Werken kein Vorher und Nachher gibt, aber ihr wisst schon wie das gemeint ist. Vorher war vielen und gerade Naturwissenschaftlern selber, einfach nicht klar, in welcher Weise ihre Tätigkeit eben auch ein sozialer und historischer Prozess ist, dessen Dynamik so unglaublich wenig mit der glatten, logischen Darstellung der Lehrbücher zu tun hat. Es gibt wohl kein Teil des sozialen Lebens und mit Sicherheit der Wissenschaft im Allgemeinen, die derart unhistorisch, ja geradezu amnesisch ihre eigene Vergangenheit verwaltet, wie es die Naturwissenschaften tun. Die typische Ausbildung eines Physikers, Chemikers oder Biologen ist geradezu zentral darauf ausgerichtet, den “Tatsachen” des jeweilgen Fachs ihre Geschichtlichkeit zu nehmen. Die Namen der Heroen der Wissenschaft werden wie dekoratives Ziehrwerk auf die verschiedenen Seiten eines typischen naturwissenschaftlichen Lehrbuchs verteilt und der Eindruck erweckt, dass meinethalben erst Korpernikus Tatsache A herausfand, Galilei Tatsache B, Newton dann Punkt C und schliesslich Einstein Fakt D. Kraft dieses akkumulativen Wirkens von Menschen, die alle mehr oder minder an der gleichen Sache mit den grundsätzlich gleichen Konzepten arbeiteten, wurde – so lässt einen implizit praktisch jedes Lehrbuch wissen – Stein um Stein das heutige Wissensgebäude aufgebaut. Das ist gut und effizient für die Ausbildung zum Physiker/Chemiker/Biologen, aber es stimmt einfach nicht.
Von der ersten Lektüre von Kuhns Essay erinnere ich in erster Linie genau diesen ganz persönlichen Schock: Wissenschaft funktioniert nicht so, wie es all diese Lehrbücher suggerieren. Es ist eben kein Prozess, in dem Stein um Stein das herrliche Gebäude der Wissenschaft errichtet wird und in dem Galileo etwas zum Wissen Kopernikus’ hinzugefügt hat und Newton dann eben etwas zum Wissen Galileo’s, undsoweiter. Kuhn sieht gerade in diesen groszen Beiträgen radikale Umschwünge, in der sich quasi eine neue Wissenschaft selbst erfindet. Ja er er geht sogar einen Schritt weiter.
Was unterscheidet eigentlich vom Systematischen her betrachtet die Wissenschaft von meinethalben den Künsten oder den Geschichtswissenschaften? Es ist nach Kuhn genau diese zwingende Abfolge vom Rätsellösen innerhalb eines Paradigmas durch die “normale” Wissenschaft und der zwingend irgendwann auftauchende Umbruch durch ein neues Paradigma. Oder anders ausgedrückt: Es ist Wissenschaft, wenn es Fortschritt im Sinne dieser Abfolge der Ereignisse gibt, und wenn es solch eine Art von Fortschritt gibt, dann ist es auch Wissenschaft.
Hätte ich einen Wunsch frei, um einen einmaligen Einfluss auf die Ausbildung zukünftiger Biologen, Physiker und Chemiker zu nehmen, dann wäre es die Pflichtlektüre eines jeden Studenten der Naturwissenschaften von Thomas Samuel Kuhns “The structure of scientific revolutions”.
PS Ein paar aktualisierte oder persöniche Überlegungen zu Kuhns Buch aus der Sicht der Klimawissenschaften. Auch wenn die meisten Beispiele hier die ganz groszen und berühmten Umbrüche der Naturwissenschaften betreffen, so sagt Kuhn doch ganz eindeutig, dass seine Überlegungen auch für die vielen kleinen Spezialgebiete der Wissenschaft und für die vielen kleinen revolutionen gelten. Ich war zu Beginn meines Studiums fast live bei einem fast archetypischen Kuhnschen Paradigmawechsel dabei. Er ereignete sich auf dem Gebiet der Paleoklimatologie. Vor fast 20 Jahren (aechz, solange bin ich schon dabei) hatte sich die sogenannte Milankovitch Theorie zur Erklärung der Eiszeiten während des Quartärs endlich durchgesetzt. Die entscheidenden Arbeiten stammten aus den 70ern, etwa von Leuten wie John Imbrie, James Hays und Nick Shackleton, denen es gelungen war, die sogenannten Milankovitch Zyklen von ca. 20, 40 und 100 Kilo-Jahren in einer Vielzahl von marinen Sedimentkernen zu identifizieren und ein konsistentes Bild zu zeichnen, wie diese Zyklen sich geographisch und zeitlich versetzt in den verschiedenen Regionen niederschlagen. Die Zyklen selbst sind Konsequenz der sich stetig ändernden Position der Erde auf ihrer Bahn um die Sonne (Details hier ). Jedenfalls stand “Milankovitch” für das gemäsz Kuhn herrschende Paradigma der Paleoklimatologen zu der Zeit, als ich mit den Klimawissenschaften anfing, und ist es natürlich immer noch, allerdings in leicht veränderter Form, wie wir gleich sehen werden.
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