2) Die zweite Entdeckung Richardsons ist mindestens genauso überraschend. Kriege und ihre Opferzahlen zeigen fraktale Eigenschaften. Was heisst das? Richardson unterteilte, wie gesagt, die Kriege seit 1815 logarithmisch in ansteigend größer werdende Boxen, je nach den Opferzahlen des jeweiligen Krieges. Dann stellte er in einer log-log Darstellung (Bild 2) die Anzahl der Konflikte gegen ihre jeweiligen Opferzahlen dar. Obwohl er “nur” 315 Konflikte in seiner Datenbank hatte, erahnte oder riet er einen tatsächlich annähernd lienaren Zusammenhang. Auf einen Megakonflikt mit mehr als 10 Millionen Opfern kamen ca. 100 vergleichbare kleine Konflikte mit um die 10000 Opfern. Je kleiner der Maßstab für die Opferzahlen wird, umso mehr Konflikte findet man und das in einem ungefähr konstanten Verhältnis. Überflüssig zu sagen, dass er diesen Zusammenhang bei 315 Datenpunkten eher erriet als wirklich zeigen konnte. Doch auch heute bestätigen die vollständigeren Datenbanken (˜3500 bewaffneten Konflikte über 1000 Jahre) wie die von Lars Erik Cederman (schöner Artikel hier) Richardsons Vermutung. Man spricht bei solch einem linearen Zusammenhang im Log-Log Diagram von einer Pareto-Verteilung, die Basis von Potenzgesetzen (Power Laws)ist , die man an den unterschiedlichsten Stellen in der Natur, Linguistik und in den Sozialwissenschaften wiederfindet. Die Verteilung von Städten und ihren Einwohnern, Worthäufigkeiten, Solarphysik und eben auch Kriege. Die Skalenfreiheit (aus Bild 2 folgt ja, dass bei Verdoppelung der Opferzahlen die Anzahl der Kriege sich um einen konstanten Faktor verringert, und zwar unabhängig vom Absolutwert der Opferanzahl) ist ja einer der wichtigsten Bedingungen der sogenanten “self organized criticality” (SOC), die von Cederman auch reichlich im Zusammenhang mit Kriegen und ihren Schäden diskutiert wird. Das bekannteste Beispiel für SOC ist sicher der Reis- oder Sandhügel (hier kommen wir nun zum Titel des Blogbeitrags) bei dem man stets und ständig ein Korn nach dem anderen oben auf den Hügel fallen läßt und bei dem lokale Wechselwirkungen (Kullern eines oder einiger weniger Körner) bisweilen und fast instantan “global” Effekte (Lawinen bis hin zum “Einsacken” des Reishügels) haben können.
Abbildung 2:Das Power Law des Krieges. Opferzahl eines bewaffneten Konfliktes und Anzahl der Opfer stehen in einem Log-Log Plot in einem linearen Zusammenhang. Über alle Skalen hinweg führt eine Multiplikation der Opferzahlen eines Krieges mit den Faktor 10 zu einer festen, stets gleichen Verringerung der Anzahl der entsprechenden Konfliktklasse (ca. um den Faktor 3).
Ich muss sagen, die Idee, dass all die Schlachtereien und Gemetzel der Weltgeschichte als eine Art stochastischer Prozess betrachtet werden können, bei denen unzählige kleinere Massaker sich bisweilen aufschaukeln und grösser werden können, ja sich manchmal zu Weltkriegen hochschaukeln, die an die 5% der Weltbevölkerung hinschlachteten, hat etwas verstörendes. Und doch, wer kennt nicht spontan einige der berühmtesten Fällen von “sich hochschaukelnden Kriegen”, die schlesischen Kriege Friedrich Wilhelms II (siebenjähriger Krieg, bei dem aus ein paar Gebietsabrundungsideen einer drittklassigen Macht namens Preussen ein echter Weltkrieg wurde) oder den Vietnam Krieg (der als relativ kleiner Entkolonialisierungskrieg zwischen Frankreich und einer kleinen Guerillaarmee begann und dank eines jahrelangen Hin- und Hers der Supermächte mit einem Massaker von mehr als einer Millionen Opfern endete) erinnern. Das wohl berühmteste Beispiel ist sicher der von Pinker auch erwähnte Fall des Gavrilo Princip, wichtigster Mann des 20ten Jahrhunderts und eben das Sandkörnchen, das ein bis zwei Weltkriege mit rund 70 Millionen Toten angestossen hat. Wie gesagt: Verstörend und auch etwas gruselig.
Es gäbe noch viel zu sagen und zu kritisieren an Pinkers These einer immer friedlicheren Welt, an deren Ende er ein gewaltfreies Utopia sieht. Da ich den vielleicht falschen Eindruck habe, dass das Buch in Europa nicht sonderlich diskutiert wurde (hier ein Interview in der TAZ und hier das FAZ Feuilleton) : Eine Leseempfehlung für die 700 Seiten von Steven Pinker. Sie tragen einen locker durch die dunkle Jahreszeit und Pinkers Beschreibung und Diskussion all der Verbrechen der Spezies Homo Sapiens zusammen mit der äusseren Kälte und dem diffusen Winterlicht verdichten sich aufs schönste zu einer jahreszeitlich angemessenen Depression.
Kommentare (82)