Ist Steven Pinkers “The better angels of our nature” in Deutschland so richtig populär geworden? Das Buch trägt auf Deutsch den deutlich klareren Titel “Gewalt: Eine neue Geschichte der Menschheit” . Zumindest in deutschsprachigen Blogs oder unter meinen Freunden scheint es relativ unbekannt geblieben zu sein. Pinker zeigt wie auf vielen Zeitskalen individuelle und organisierte Gewalt (also Krieg), die die Geschichte der Menschheit so sehr bestimmt hat, abnimmt. Sie nimmt ab, gemäß Pinker, auf Grund einer ganzen Reihe sozialer und psychologisch-historischer Umstände und Entwicklungen, die meist alle so langsam verlaufen, dass wir selbst, die wir uns permanent von den Bilder von Krieg, Verwüstung und Gewalt gejagt fühlen, sie gar nicht bemerken. Ich will hier gar nicht gross etwas zu diesem Buch sagen. Mit ungefähr 700 Seiten ist es ja praktisch nicht mehr in einem Blog zu besprechen und, so interessant und inspirierend es auch ist, man mag Pinker wie so vielen amerikanischen Autoren (Pinker ist Kanadier, aber nun gut) manchmal mehr Zeit wünschen, frei nach Goethes: “Entschuldige bitte, ich hatte keine Zeit, mich kurz zu fassen”.
Hier nur ein für mich völlig überraschendes Detail aus Pinkers 5ten Kapitel: The Long Peace. Darin geht es um die Entwicklung, Häufigkeit und Schwere bewaffneter Konflikte und Kriege in den letzten 1000 Jahre. Nun hatte ich hier auf Primaklima schon einmal darüber berichtet, dass es wissenschaftliche Arbeiten gibt, die Kriege etwas zum Klimageschehen oder zu besonderen Witterungsbedingungen in Verbindung setzen. Ein PNAS Artikel etwa behauptet, dass ENSO Variationen einen signifikanten Einfluss auf bewaffnete Auseinandersetzungen, insbesondere in Afrika, haben. Ich wusste aber nicht, dass der erste, der überhaupt eine wissenschaftlich-mathematische Analyse von Kriegen durchgeführt hat, ebenfalls ein Meteorologe war, und zwar kein geringerer als Lewis Fry Richardson.
Richardson ist einer der Väter der numerische Wettervorhersage und die nach ihm benannte Richardson Number ist ein Schlüsselparameter bei der Beschreibung von Turbulenz in der atmosphärischen Grenzschicht. Kurz, den kennt jeder Meteorologe, ob er will oder nicht. Richardson war Quäker, also Pazifist, und er fragte sich wie viele andere nach dem verheerenden zweiten Weltkrieg, wie es mit der Menschheit so weitergehen soll. Es gab nicht wenige, auch berühmte Historiker mit dem Blick für lange Zeitskalen, die von einem baldigen Armageddon und einem finalen Clash der Weltanschauungen ausgingen. Es war nur eine Frage der Zeit und die Frage, um wieviel die 55 Millionen Toten von World War II wohl übertroffen werden würden.
Richardson aber suchte nach einer mathematischen Beschreibung und einer solideren Vorhersage. Er stellte eine Liste von insgesamt 315 bewaffneten Konflikten nach den Napoleonischen Kriegen zusammen, die er sich bzgl. ihres Beginns, Länge und Opferzahlen genauer anschaute. Er unterteilte die Kriege in 10er Logarithmus Größenklassen, um so besser Konflikte völlig unterschiedlicher Größenklassen darstellen zu können, und betrachtete dann die Zusammenhänge zwischen Beginn, Dauer und Opferzahlen (Stephen Fry Richardson “Variation of the Frequency of Fatal Quarrels with Magnitude”, 1948 ). Zwei Erkenntnisse haben mich besonders überrascht.
Bild 1: Richardsons Darstellung von Kriegsanfängen und -länge einerseits und Kriegsopferzahlen andererseits. Die untere X-Achse entspricht der Zeitachse (von 1815 bis 1948) und die senkrechte Y Achse den Opferzahlen (logarithmisch unterteilt von ein paar tausend bis zu Millionen Opfern). Die beiden Striche rechts-oben entsprechen etwa den ersten und zweiten Weltkrieg. Die Achsbeschriftung wurde weggelassen, damit man das stochastische Muster besser wahrnehmen kann. Gerade wie Sterne am Himmel.
1) Kriege sind zeitlich wie ein Zufallsgröße verteilt. Das ist erstaunlich. Man könnte doch meinen oder hoffen, daß Menschen kurz nach einem Krieg – selbst wenn er nur als schlimmes Beispiel im Nachbarland stattfand – für eine gewisse Zeit keine rechte Lust haben, den nächsten Konflikt loszubrechen. Wenn das so wäre, dann gäbe es sozusagen einen gewissen zeitlichen Mindestabstand zwischen Kriegen. Tatsächlich findet man aber eine Poisson Verteilung, in der also der nächste Krieg nach zehn schrecklichen Kriegen zuvor so wahrscheinlich ist wie nach 30 Jahren Frieden. Gerade diese Zufallsverteilung führt zu scheinbaren Mustern (siehe Abbildung 1), die unser stets nach solchen Muster Ausschau haltender Verstand immer irrtümlich als Zyklen (Klima!) und Figuren (etwa am Sternenhimmel) interpretiert. Abbildung 1 zeigt genau dies: Von unten nach oben nimmt die Schwere der Konflikte zu, von links nach rechts ist ihr Anfang und Ende dargestellt. Richardson konnte mathematisch zeigen, dass diese Verteilung mit einer Poissson Verteilung übereinstimmt! Des Reichskanzlers Bethmann-Hohlweg Rede zu Beginn des ersten Weltkriegs vom “eisernen Würfel”, der gefallen sei, hat also überraschend einen soliden mathematischen Hintergrund.
2) Die zweite Entdeckung Richardsons ist mindestens genauso überraschend. Kriege und ihre Opferzahlen zeigen fraktale Eigenschaften. Was heisst das? Richardson unterteilte, wie gesagt, die Kriege seit 1815 logarithmisch in ansteigend größer werdende Boxen, je nach den Opferzahlen des jeweiligen Krieges. Dann stellte er in einer log-log Darstellung (Bild 2) die Anzahl der Konflikte gegen ihre jeweiligen Opferzahlen dar. Obwohl er “nur” 315 Konflikte in seiner Datenbank hatte, erahnte oder riet er einen tatsächlich annähernd lienaren Zusammenhang. Auf einen Megakonflikt mit mehr als 10 Millionen Opfern kamen ca. 100 vergleichbare kleine Konflikte mit um die 10000 Opfern. Je kleiner der Maßstab für die Opferzahlen wird, umso mehr Konflikte findet man und das in einem ungefähr konstanten Verhältnis. Überflüssig zu sagen, dass er diesen Zusammenhang bei 315 Datenpunkten eher erriet als wirklich zeigen konnte. Doch auch heute bestätigen die vollständigeren Datenbanken (˜3500 bewaffneten Konflikte über 1000 Jahre) wie die von Lars Erik Cederman (schöner Artikel hier) Richardsons Vermutung. Man spricht bei solch einem linearen Zusammenhang im Log-Log Diagram von einer Pareto-Verteilung, die Basis von Potenzgesetzen (Power Laws)ist , die man an den unterschiedlichsten Stellen in der Natur, Linguistik und in den Sozialwissenschaften wiederfindet. Die Verteilung von Städten und ihren Einwohnern, Worthäufigkeiten, Solarphysik und eben auch Kriege. Die Skalenfreiheit (aus Bild 2 folgt ja, dass bei Verdoppelung der Opferzahlen die Anzahl der Kriege sich um einen konstanten Faktor verringert, und zwar unabhängig vom Absolutwert der Opferanzahl) ist ja einer der wichtigsten Bedingungen der sogenanten “self organized criticality” (SOC), die von Cederman auch reichlich im Zusammenhang mit Kriegen und ihren Schäden diskutiert wird. Das bekannteste Beispiel für SOC ist sicher der Reis- oder Sandhügel (hier kommen wir nun zum Titel des Blogbeitrags) bei dem man stets und ständig ein Korn nach dem anderen oben auf den Hügel fallen läßt und bei dem lokale Wechselwirkungen (Kullern eines oder einiger weniger Körner) bisweilen und fast instantan “global” Effekte (Lawinen bis hin zum “Einsacken” des Reishügels) haben können.
Abbildung 2:Das Power Law des Krieges. Opferzahl eines bewaffneten Konfliktes und Anzahl der Opfer stehen in einem Log-Log Plot in einem linearen Zusammenhang. Über alle Skalen hinweg führt eine Multiplikation der Opferzahlen eines Krieges mit den Faktor 10 zu einer festen, stets gleichen Verringerung der Anzahl der entsprechenden Konfliktklasse (ca. um den Faktor 3).
Ich muss sagen, die Idee, dass all die Schlachtereien und Gemetzel der Weltgeschichte als eine Art stochastischer Prozess betrachtet werden können, bei denen unzählige kleinere Massaker sich bisweilen aufschaukeln und grösser werden können, ja sich manchmal zu Weltkriegen hochschaukeln, die an die 5% der Weltbevölkerung hinschlachteten, hat etwas verstörendes. Und doch, wer kennt nicht spontan einige der berühmtesten Fällen von “sich hochschaukelnden Kriegen”, die schlesischen Kriege Friedrich Wilhelms II (siebenjähriger Krieg, bei dem aus ein paar Gebietsabrundungsideen einer drittklassigen Macht namens Preussen ein echter Weltkrieg wurde) oder den Vietnam Krieg (der als relativ kleiner Entkolonialisierungskrieg zwischen Frankreich und einer kleinen Guerillaarmee begann und dank eines jahrelangen Hin- und Hers der Supermächte mit einem Massaker von mehr als einer Millionen Opfern endete) erinnern. Das wohl berühmteste Beispiel ist sicher der von Pinker auch erwähnte Fall des Gavrilo Princip, wichtigster Mann des 20ten Jahrhunderts und eben das Sandkörnchen, das ein bis zwei Weltkriege mit rund 70 Millionen Toten angestossen hat. Wie gesagt: Verstörend und auch etwas gruselig.
Es gäbe noch viel zu sagen und zu kritisieren an Pinkers These einer immer friedlicheren Welt, an deren Ende er ein gewaltfreies Utopia sieht. Da ich den vielleicht falschen Eindruck habe, dass das Buch in Europa nicht sonderlich diskutiert wurde (hier ein Interview in der TAZ und hier das FAZ Feuilleton) : Eine Leseempfehlung für die 700 Seiten von Steven Pinker. Sie tragen einen locker durch die dunkle Jahreszeit und Pinkers Beschreibung und Diskussion all der Verbrechen der Spezies Homo Sapiens zusammen mit der äusseren Kälte und dem diffusen Winterlicht verdichten sich aufs schönste zu einer jahreszeitlich angemessenen Depression.
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