Bruno Latour ist Vize-Präsident der renomierten Science Po (einer internationalen Elite-Uni in Paris) und wahrscheinlich der momentan bekannteste und einflussreichste Philosoph Frankreichs. Er gilt zusammen mit Steve Woolgar und Karin Knorr-Cetina als Mitbegründer der sogenannten Science Studies, einer soziologisch-philosophischen Schule, deren Forschungsobjekt die Naturwissenschaften selbst sind, und die untersucht, wie, auf einer grundsätzlichen Ebene, Wissenschaftler Wissen produzieren (Manufacture of Facts). Latour’s damals am Salk Institut verfasste Arbeit (zusammen mit Steve Woolgar) “Laboratory Life” wird in diesem Jahr 35 Jahre alt und ist mittlerweile ein Klassiker. Die beiden Autoren schieben dabei ihre Forschungsobjekte, nämlich die “beobachteten” Biochemiker und Mediziner, ähnlich wie diese ihre Abstriche, unter das “Mikroskop” des Anthropologen, der Feldstudien betreibt. Sie bedauerten dabei sogar im Nachwort, dass sie die Gehirne der Untersuchten nicht entfernen und so noch genauer unter die Lupe nehmen konnten.
Latours neuestes, gerade auf Deutsch erschienenes Werk heisst “Existenzweisen – Eine Anthropologie der Modernen” (hier ein Zeit-Interview mit Ihm zu den “Existenzweisen”) und benutzt als Aufmacher und Sinnbild die Klimatologie und den Klimawandel. An keinem anderen Gegenstand wie dem der sich überhitzenden Erde und der bekanntlich auch esoterisch besetzten “Gaia” liesse sich so schön zeigen, wie die Dinge, die wir “da draussen” untersuchen und “verobjektivieren”, auf uns zurückwirken und uns als untersuchendes “Subjekt” mitbestimmen. Denn gerade diese Trennung in Objekt-Subjekt, in eine sachlich durch Fakten beschriebene Welt und einem erkennenden Subjekt, das seinen Ideen und moralischen Vorstellungen ganz unabhängig von der Welt der Dinge folgt, das ist genau für ihn die Bewegung der “Moderne”. Sein bislang grösster Veröffentlichungserfolg, “Wir sind nie modern gewesen” beschreibt dieses im 17ten Jahrhundert beginnende Auseinanderbrechen in die dingliche Welt und die Welt der Werte und der Gesellschaft als DIE charakteristische Bewegung der Moderne.
Latour beginnt also die “Existenzweisen” mit einer Anekdote, die er wohl aus einem hochrangigen Treffen zum Thema Klimawandel und nötige Massnahmen zwischen französischen Industrievertretern und einem Klimaforscher des College de France mitgenommen hat. An dieser Hohestätte französischer Aufklärung gibt es aber zur Zeit nur einen Klimaforscher und ich verrate sicher nicht zuviel, wenn ich also mal vermute, dass es sich um Eduard Bard gehandelt haben muss. Und so kommt es dann zu der schockierenden (Latour) Frage eines Industriellen an Eduard:
“Aber warum soll man Ihnen glauben, Ihnen mehr als den anderen?” Ich wundere mich. Warum stellt er mit seiner Frage, als handelte es sich um einen blossen Meinungsstreit, die Spezialisten für das Klima auf dieselbe Stufe mit den sogenannten Klimaskeptikern – wobei man die schöne Vokabel “skeptisch” ein wenig in Misskredit bringt?…Ist die Debatte dermaßen ausgeartet, daß man vom Schicksal des Planeten sprechen kann, als befände man sich auf der Talkshow im Fernsehen, wo der Anschein erweckt wird, die verschiedenen Positionen gleich zu behandeln?”
Wie wird Bard antworten? Latour erwartet eine Liste von Belegen und Fakten als Antwort, doch es kommt dann eben die für ihn überraschende, geseufzte Antwort:
“Wenn man kein Vertrauen in die wissenschaftlichen Institutionen hat, dann ist das sehr schwerwiegend.” Statt Fakten, Zusammenhängen und Ableitungen also: Vertrauen und das auch noch in die Institutionen!
Warum also hat er sich nicht einfach auf die absolute Wahrheit, das Rationale, die Gewissheit berufen und stattdessen Vertrauen in die wissenschaftlichen Institutionen angerufen?
“Wenn man sich auf sie (i.e. DIE Wissenschaft mit großem Artikel) beruft, gibt es nichts zu debattieren, weil man sich immer schon auf der Schulbank befindet, wo man lernen muß – oder schlechte Zensuren erhält. Muß man sich jedoch auf das Vertrauen berufen, so ist die Gesprächssituation eine völlig andere: Man muß die Sorge um eine fragile und delikate Institution teilen, die voller entsetzlich materieller und weltlicher Elemente steckt – die Öllobies, die Peer-Beurteilung, die Zwänge der Modelbildung, die Satzfehler in den tausendseitigen Berichten, die Forschungsverträge, die Computer-Bugs usw. … Wie kann dieser Forscher vom College de France den Komfort aufgeben, den ihm die Berufung auf die unbestreitbare Gewissheit verleiht, und sich statt dessen auf das Vertrauen in die wissenschaftliche Institutionen stützen?… Das ist ein wenig so, als wenn ein Priester einem Katechumenen, der an der Existenz Gottes zweifelte, antwortete, indem er das Organigramm des Vatikans aufzeichnete, die bürokratische Geschichte der Konzilien und die zahlreichen Glossen der Abhandlungen des kanonischen Rechts darlegte.”
War dieser radikale Wechsel der Argumentation geschickt, angemessen oder gar nötig? Was hat sich geändert, dass der Klimatologe sosehr die Stellung gewechselt hat?
Latour meint dazu folgendes:
“Wenn ihm schien, daß ich ihn mit einem leicht ironischen Gesichtsausdruck betrachtete, als er um eine Antwort rang, möge er mir verzeihen, denn ich gehöre zu einem Forschungbereich, den Forschungen über die Wissenschaft (die science studies), die sich gerade bemühen, den Begriff der wissenschaftlichen Institution eine positive Bedeutung zu verleihen. Nun wurde aber dieser Forschungsbereich in seinen Anfängen in den 1980er Jahren von vielen Wissenschaftlern (hier bezieht er sich auf die sogenannten science wars in den 80er/90er Jahren, Anmerkung GH) nicht nur für eine Kritik an der wissenschaftlichen Gewissheit gehalten – was er tatsächlich war -, sondern auch an gesicherten Erkenntnissen – was er keineswegs war. Wir wollten verstehen, durch welche Instrumente, welche Maschinerie, welche materiellen, historischen, anthropologischen Bedingungen es möglich ist, Objektivität hervorzubringen… In unseren Augen hatte die wissenschaftliche Objektivität einen zu wichtigen Wert, um ihr als einzige Verteidigung das zu lassen, was man mit einem Allzweckwort den “Rationalismus” nennt und dessen Wert allzuoft darin besteht, jede Diskussion abzubrechen, indem allzu hartnäckige Gegner der Irrationalität bezichtigt werden.”
Ich fand diese Anekdote Latours mit seiner Beschwörung (?) konservativ klingender Begriffe wie Vertrauen, Werte und Institutionen interessant und verstörend zugleich. Müssen wir, um die Objektivität zu schützen, tatsächlich Tatsachen und Werte aufs Neue vermischen? Die “Existenzweisen” gehen mit ihren 650 Seiten natürlich viel weiter als diese Einstiegsanekdote. Auf der Webseite modesofexistence gibt es eine Vielzahl von Diskussionen (englisch- und französischsprachig) und Beiträgen rund um das Buch. Und hier geht es zum deutschsprachigen Blog des Oberseminars abgehalten von Prof. Jan Keupp, von dem ich im übrigen auch das Bild der Eule oben gestohlen habe. Dort geht es ebenfalls um Latours “Existenzweisen”.
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