Mit dem heutigen Datum bin ich aus historischen Gründen sehr verbunden. Aus aktuellem Anlass deshalb heute eine kleine Tirade.
Mein Geschichtsunterricht begann in der Realschule mit der Antike, mit Solon und Kleisthenes und der Attischen Demokratie. Er umfasste noch die Römer, Teile des Mittelalters mit der Entwicklung vom Personenverbands- zum Nationalstaat und dem Hin und Her der Kriege und Völkerwanderungen. Er endete mit dem zweiten Weltkrieg. Mein Geschichtsleistungskurs begann mit der Protestation 1517, die nachfolgend zur Reformation wurde. Er führte über die Schlachtfelder des 30-jährigen Krieges und fiel durch ein Fenster in Prag, disputierte die Erbfolge der Pfalz und hörte des Sonnenkönigs unseligen Befehl “Schafft eine Wüste zwischen Euch und dem Rhein!”. Er durchdrang die Wirren der französischen Revolution und Metternichs Europa, den klassischen Liberalismus und die Geburt der deutschen Demokratie. Ich habe den 175. Jahrestag des Hambacher Festes am historischen Ort erlebt und auch der ’48er gedacht, die wenige Jahre danach für das Ideal eines einigen Deutschlands Land und Leben gelassen haben. Wie viele mit ansehen mussten, wie in Versailles ein ganz anderes Deutschland geschmiedet wurde, wie Europa in den Abgrund taumelte und der deutsche Kaiser zu denen gehörte die, frei nach Moltke d.Ä. “die Lunte in das Pulverfass warfen”, wie ein schmaler streifen Landes zwischen Deutschland und Frankreich/Benelux 4 Jahre lang umgegraben wurde, wie die Sieger versuchten, Deutschland zu beschneiden und es doch nicht schafften, wie schwach die erste demokratische deutsche Nation war und welche furchtbaren Folgen der Aufstieg der Nazis hatte. Mein Geschichtsunterricht war zentriert auf Europa, vor allem auf Deutschland bzw. was einmal Deutschland werden würde. Er endete in der frühen Bundesrepublik, die im Begriff war, so vieles zu überwinden – wirtschaftliches Elend und kriegerisches Denken. Damals, als die Amerikaner noch die Befreier waren.
Niemals hat einer meiner Lehrer versucht, mir einzureden, ich müsse mich dafür schämen, Deutscher zu sein. Nicht ansatzweise. Niemals war das dritte Reich das alles überragende Thema. Jeder meiner Lehrer hat versucht, das Unbegreifliche begreiflich zu machen – aber niemand hat daraus irgendeine kollektive, Zeit und Generationen umspannende Schuld konstruiert. Ich habe die beiden Male – in der Realschule und am Speyer Kolleg – die Geschichte des Holocaust nie als Beispiel dafür erlebt, wozu die bösen Deutschen fähig sind, sondern was Hass aus Menschen macht. Der Zivilisationsbruch war gewaltig, es leben heute noch viele Zeitzeugen – deswegen ist seine Wirkung so stark. Ich fühle deshalb keine Schuld und kann nicht behaupten, dass jemals jemand versucht hätte, mir Schuld aufzubürden.
Viel häufiger waren schon immer Deutsche, die mir erklärten, man habe mir (o-Ton ist meistens etwas in der Art von “uns Deutschen”, aber dazu zähle ich mich frecherweise einfach mal auch) schon immer einreden wollen, ich hätte auch heute die Schuld der Nazis zu tragen. Durch Studium, Beruf und Freunde habe ich viele Menschen aus der ganzen Welt kennen gelernt – nicht einer hat irgendwas von Schuld geredet.
Ist meine Biographie in dieser Hinsicht außergewöhnlich? Wenn ich mich im Moment im Internet umschaue, beschleicht mich dieses Gefühl. Gehöre ich zu einer Minderheit? Was sind Eure Erfahrungen – decken Sie sich so gar nicht mit meinen?
Erst in diesen Tagen, wenn ich die Kommentare zu Hrn. Höckes Rede unter den Artikeln z.B. bei SPON oder der FAZ lese, verstehe ich, was der schwer zu ermittelnde Urheber mit dem Wort gemeint hat, dass die Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen würden. Dieser Tage liest man viel von einem deutschen Schuldkomplex, den ich so nie erlebt habe – außer bei Leuten, die mit der historischen Tatsache anscheinend nicht gut leben können. Ich habe das Gefühl, dass viele Menschen nur den Patriotismus kennen, der mit klingendem Spiel marschiert, der einem erlaubt, sich in Großtaten zu sonnen, zu denen man selbst nichts beigetragen hat oder eben gleich in Kriegstaten. Ich kenne so viele, die von deutscher Kultur faseln und nie eine Zeile irgendeines Dichters gelesen haben…
Ich finde es schade, dass es so viele Menschen gibt, die nicht verstehen können, dass es auch eine andere Form von Patriotismus gibt: Stolz darauf zu sein, in einem Land zu leben, in dem man sich seiner ganzen Geschichte bewusst ist und nicht nur der schönen Seiten – und gerade deshalb erhobenen Hauptes durch die Welt gehen kann. Stolz darauf zu sein, den Militarismus und Chauvinismus der Vergangenheit überwunden zu haben und all das Leid, das er angerichtet hat. Im Bewusstsein der Geschichte dafür zu sorgen, dass sie sich nicht wiederholt. Nicht mal ansatzweise. Es gibt eine Form von Gedenken, die sich heute, weil es angebracht ist, ohne Schuldbewusstsein der Opfer der Shoah zuwendet und in nicht ganz drei Wochen ohne Hass oder Wurt der Opfer der Luftangriffe auf Dresden, weil es dann angebracht sein wird. Der zweite Weltkrieg, die Flächenbombardements, der Holocaust sind geschehen und so unsagbar schrecklich, dass sie sich nie wiederholen dürfen. Wie sollen wir das garantieren, wenn wir ihrer nicht zu passender Stunde gedenken?
Ich bin froh, in einem freien Land zu leben. Ich bin froh, in einem Land zu leben, in dem auch jemand wie Hr. Höcke sagen darf, was er sagt (und ich bin alles andere als überzeugt davon, dass der § 130 StGB Probleme löst). Der Holocaust ist in der Tat kein Grund, auf die deutsche Geschichte stolz zu sein – aber der Umgang damit, das ist einer.
Ist das so außergewöhnlich?
Das musste ich mir von der Seele schreiben. Nächste Woche geht’s hier wieder um Technik.
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