Nachdem sich im Juni letzten Jahres eine Mehrheit von knapp 52 % der britischen Wähler für den Austritt Großbritanniens aus der EU ausgesprochen hatte, hat die amtierende Premierministerin Theresa May heute Mittag formal den Austritt aus der Europäischen Union gemäß Artikel 50 des Vertrages über die Europäische Union erklärt. Hier ist der Artikel noch mal im Volltext.
Für mich gibt es einige ungeklärte, alles andere als triviale Fragen:
EU-Produktrichtlinien
Damit ein Produkt in der EU in Umlauf gebracht werden darf, muss der Hersteller es mit der CE-Kennzeichnung versehen. Damit erklärt er rechtsverbindlich, dass er alle relevanten EU-Richtlinien bezüglich Produktqualität, -sicherheit, -umweltschutzes, etc. eingehalten hat. Das gilt für Hersteller innerhalb wie außerhalb der EU, also werden britische Unternehmen auch in Zukunft nicht drumherum kommen, sich diesen Regeln laufend anzupassen, wenn sie Produkte in der EU verkaufen wollen. Gleichzeitig wird die britische Legislative Gesetze beschließen müssen, die das nationale Recht laufend mit den jeweils aktuellen Richtlinien verzahnen, denn ansonsten entstünde die paradoxe Situation, dass Produkte erzeugt werden, die zwar in der EU, aber in Großbritannien selbst keinen gültigen Regeln entsprechen. Man könnte darauf einwenden, dass es vielleicht gar keine Regelungen braucht und in der Tat würde ich dem zustimmen, aber nur so lange, wie nichts schief geht. Will sagen, solange sich niemand verletzt, keine Garantien nicht erfüllt werden, alle Spezifikationen eingehalten werden, kurz: solange alle mit dem Produkt zufrieden sind. Für einen Konsumgüter-Produzenten bedeuten die EU-Richtlinien einigen Mehraufwand, für den Konsumenten bessere Qualität und relative Sicherheit in Streitfällen. Es ist nicht verwunderlich, dass zurzeit eine Koalition aus Parlamentariern und Unternehmensleitern für die Abschaffung der meisten EU-Richtlinien wirbt. Den Produzenten wäre damit sowohl die Pflicht genommen, gewisse Standards einzuhalten als auch die Gefahr, dass unzufriedene Konsumenten sich vor Gericht auf diese berufen.
Man bedenke aber, dass Produkte in diesem Sinne nicht nur Konsumgüter für ein paar Euro pro Einheit sind, sondern auch Maschinen für fünf-, sechs-, siebenstellige Beträge. Wenn ein britisches Unternehmen von einem anderen in Großbritannien produzierenden Unternehmen z.B. für 100.000 Pfund Prozessmessgeräte kauft will, dann wird es erst recht Rechtssicherheit im Falle von Problemen haben wollen. Ein Produzent der sowohl den heimischen als auch den EU-Markt beliefert, steht dann vor zwei Alternativen: Zwei Produktlinien fahren (eigentlich drei, denn im Moment gibt es neben der EU- schon die US-amerikanische Regelwelt) und den damit verbundenen Verwaltungs- und Produktionsaufwand stemmen oder darauf hoffen, dass der Gesetzgeber nationales Recht schafft, das mit dem EU-Recht ausreichend kompatibel ist. Letzteren Weg gehen z.B. die Schweiz und Norwegen.
Natürlich muss man darüber streiten, ob die EU die Leistungsaufnahme von Staubsaugern und Leuchtmitteln regulieren sollte (Ich prophezeie eine Art Rolling Coal des Elektrogerätemarktes mit Versandhäusern, bei denen man Glühlampen und Staubsauger großer Anschlussleistung kaufen kann). Aber ähnlich wie die berühmte, gar nicht so unsinnige und de facto nach wie vor gelebte Gurkenverordnung werden Regeln normalerweise auch in der EU nicht aus Spaß an der Freude erlassen, sondern um einen bestimmten Zweck – in diesem Fall EU-weite Standardisierung eines bestimmten Logistikzweigs – zu erreichen. Glühlampe und Staubsauger sind in meinen Augen vor allem Leuchttürme, die die Leute für ihren Energieverbrauch sensibilisieren sollen – keine neue Idee, gab es schon früher. Es liegt allerdings in der Natur der Sache, dass jede neue Regel als Gängelung angesehen wird (die älteren Semester werden sich möglicherweise an die Einführung der Gurtpflicht erinnern).
EU-Normen
Auf der Welt gibt es (neben vielen kleineren, wie API, VDE, etc.) zwei große Normenwelten von Bedeutung: EN und ANSI/ISA. EN sind die EU-Normen, ANSI die US-amerikanischen Normen. Diese beiden Welten sind nicht einfach kompatibel und die Unterschiede gehen weit über die Verwendung metrischer bzw. imperialer Einheiten hinaus. Allein die Ansätze der Planung von PLT-Stellen sind völlig verschieden: EN ist aufgabenorientiert, d.h. man beschreibt zunächst was man eigentlich will und dann wie die Lösung aussieht. ANSI kennt eine weit weniger strikte Trennung – schon bei der Beschreibung der Aufgabe geht man sehr tief ins Detail, was die Anzahl und Auswahl der Geräte und Teilsysteme angeht. Beide Welten haben ihre Vor- und Nachteile, beide gründen auf gewissen Philosophien und beide sind so verschieden, dass man sie nicht mischen kann, ohne dass es kracht. Wenn Großbritannien aus der EU austritt, wird sich auch die Frage der künftig gelebten Normenwelt stellen. Bleibt es bei EN oder wird es in Zukunft eher ANSI? Schließlich ist man mit den US-Amerikanern als eines der wenigen zivilisierten Länder der Welt Bollwerk gegen das metrische System. Oder werden die Briten gar wieder eine eigene Normenwelt und damit echte British Standards, die nicht vor allem mehr oder minder direkte Umsetzung von EN oder ANSI sind einführen?
EU-Richtlinien zum Arbeitsrecht
die EU-Arbeitszeitrichtlinie und Arbeitsschutzrichtlinie sind zwei Beispiele von EU-Richtlinien mit deutlichen Auswirkungen auf die Spielregeln, nach denen in der EU gearbeitet werden soll, in Deutschland umgesetzt in Form der entsprechenden Gesetze. Objektiv betrachtet sind diese Regelungen von Nachteil für die Wirtschaft, denn sie erlegen den Arbeitgebern Regeln auf, an die sie sich halten müssen. Das ist ein Wettbewerbsnachteil der EU am Weltmarkt. Allerdings ist in dieser Argumentation auch das Zahlen auskömmlicher Löhne ein Wettbewerbsnachteil und ich denke, die meisten Leser dürften mit mir der Meinung sein, dass zumindest die eigene Arbeit fair entgolten werden sollte.
Mich besorgt (wenngleich es mich nicht überrascht), dass gerade die Arbeitszeitrichtlinie als Ballast wahrgenommen wird. Durch sie wird die regelmäßige, wöchentliche Arbeitszeit auf 48 Stunden beschränkt (Ausnahmen sind kurzzeitig möglich, wenn zeitnah Freizeit als Ausgleich gegeben wird), jeder Arbeitnehmer in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis hat Anspruch auf 4 Wochen bezahlten Urlaub pro Jahr, es gibt Regeln für Mindestruhezeiten, Gestaltung von Schichtarbeit, usw. Die Arbeitszeitrichtlinie steckt schon einen ziemlich weiten Rahmen ab. Man bedenke, was in Deutschland mit Doppelschichten in Krankenhäusern oder 60-Stunden-Wochen von Montagepersonal schon alles möglich ist, ohne die Richtlinie bzw. das darauf fußende nationale Gesetz abzuschaffen. Wenn darin tatsächlich ein Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung gesehen wird, dann befürchte ich für die britischen Arbeitnehmer nichts Gutes.
Just-in-Time-Produktion
Über die gesamte EU inklusive der britischen Inseln und Irland spannen sich komplexe, tiefgestaffelte, vielschichtige Versorgungsketten, die die moderne Just-In-Time-Produktion mit allen Vorteilen für Lagerhaltung und Offsetkosten erst möglich machen. Das Schengener Abkommen hat dieses System stark vereinfacht, indem obligatorische Grenzkontrollen vereinzelten Stichproben gewichen sind. Wenn zwischen Großbritannien und der EU wieder verpflichtende Grenzkontrollen eingeführt werden – insbesondere zwischen Nordirland und Irland, aber auch z.B. zwischen den Londoner und Hamburger Häfen, bedeutet das eine Erhöhung von Lieferzeiten und mehr Papierkram für die Logistikunternehmen, was das Ganze insgesamt teurer macht. Kompensieren ließe sich das z.B. durch größere Lagerhaltung mit allen Vor- und Nachteilen, darunter die größere Versorgungssicherheit bei kurzfristigen Ausfällen (aber die decken Hersteller sowieso ab) und höheren Kosten. Das ist auch einer der Gründe, warum es in der EU ansässigen Firmen zwar leicht fällt, Fertigprodukte (z.B. Autos und Maschinen) an Länder zu liefern, die nicht zum Binnenmarkt gehören wie Japan oder Südkorea, sie aber beim Handel innerhalb der EU, bei dem zwischen Firmen vor allem Komponenten Just-In-Time gehandelt werden, Schwierigkeiten hätten. Und Firmen sind nun mal nicht nur Produzenten, sondern auch Kunden.
Vorläufig abschließende Gedanken
Der Brexit ist nun auch formal auf dem Weg, d.h. der zweijährige Trennungsprozess rollt an und man darf gespannt sein, welchen Weg er nimmt. Ich denke, dass die Verhandlungspartner an sich an guten Lösungen interessiert sind. In der britischen Presse waren in den letzten neun Monaten viele Metaphern aus der Welt des Poker zu lesen, aber ich glaube nicht, dass da was dran ist. Das ist kein Immobilien-Geschäft und auch kein Pokerspiel, bei dem der eine den anderen mit Geheimwissen ausbooten kann. Die Nebenbedingungen liegen ziemlich klar auf dem Tisch, die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen sind öffentlich bekannt. Ich denke, dass zunächst einige Monate ins Land gehen werden, ohne dass man wirklich sagen kann, wohin die Reise geht. In den nächsten zwei Jahren werde ich sicher noch das ein oder andre Mal auf die Fragen oben zurück kommen. Mal sehen, ob, wann und wie sie beantwortet werden.
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