Stell Dir vor, Du bist Architekt. Eines Tages kommt ein Kunde zu Dir, der ein Haus bauen will. Man stellt sich vor, wechselt ein paar einleitende Worte, setzt sich an den Tisch, trinkt eine Tasse Kaffee. Und dann, noch bevor Du überhaupt dazu kommst, ein paar grundsätzliche Fragen zu klären, zieht Dein Gegenüber eine große Rolle aus der Tasche, fördert einen Stapel Pläne zu Tage. So, genau so stellt er sich sein Traumhaus vor. Auf Millimeterpapier. Format A2. So viel Mühe hat er sich schon gemacht.
Anderes Beispiel. Du bist Finanzberater und zu Dir kommt eine Kundin, die das Haus, dass sie bauen will, finanzieren muss. Man stellt sich vor, wechselt ein paar einleitende Worte, setzt sich an den Tisch, trinkt eine Tasse Kaffee. Und dann, noch bevor Du überhaupt dazu kommst, ein paar grundsätzliche Fragen zu klären, zieht Dein Gegenüber eine dicke Mappe aus der Tasche, fördert einen Stapel Excel-Tabellen zu Tage. So, genau so stellt sie sich das mit der Finanzierung vor. Eine von dem guten Dutzend Möglichkeiten, die sie mit Hilfe des Internet und Excel zusammengetüftelt hat. in tagelanger Arbeit, auf seitenweise Papier. So viel Mühe hat sie sich schon gemacht.
Drittes Beispiel. Stell Dir vor, Du steckst in meiner Haut und willst Deinen Garten automatisch bewässern. Du gehst ins Internet, guckst was es so an Gartenbewässerungen gibt, vergleichst Hunter mit Gardena…und hast eigentlich noch gar keine Vorstellung, wie Du deinen Garten überhaupt gestalten willst.
Was diese drei Beispiele veranschaulichen sollen, ist die Neigung von Menschen, zu früh zu tief ins Detail zu gehen. Insbesondere dann, wenn sie begeistert sind. Ich glaube, jeder, der in einer Branche arbeitet, in der man sehr viel Expertise braucht – z.B. zum Häuser planen & finanzieren – und Kundenkontakt hat, wird immer mal wieder ganz ähnliche Situationen erleben. Sie entstehen leicht, wenn eifrige Leute sich mit einem komplexen Thema befassen, dessen sie nicht kundig sind oder wenn Fachleute, die sich hauptsächlich mit der Lösung von Problemen befassen meinen, die Analyse des Problems überspringen zu können. Um beim Bild der Gartenbewässerung zu bleiben, suchen sie schon nach Herstellern und Systemen, obwohl noch gar nicht geklärt ist, welche wie geformte Fläche bewässert werden soll. Während das Was noch in der Schwebe ist, sind sie schon beim Wie.
Dabei ist zu Beginn doch noch gar nicht klar, ob sich die hochgesteckten Ziele überhaupt verwirklichen lassen. Vielleicht bleiben sie ja Luftschlösser – wer weiss? Vielleicht ist man ohne es zu merken total abgehoben und muss erst wieder mühsam auf die Erde geholt werden – alles möglich. Bevor man sich nicht Klarheit über die Aufgabenstellung, also das Was verschafft hat, kann man nicht gut die Lösung, also das Wie planen.
Zum Was gehören alle gegebenen Faktoren, die man selbst zunächst nicht ändern kann. Das ist natürlich vor allem die Aufgabenstellung an sich, aber auch alle Nebenbedingungen, wie Größe und Schnitt meines Gartens, Anordnung von Beeten und Rasen, das regionale Klima mit seinen durchschnittlichen Niederschlagsmengen und Temperaturverläufen, aber auch Fragen der Verfügbarkeit von Wasser und Strom, Aufstellungsmöglichkeiten für die Steuerung, das Budget, das ich bereit bin, einzusetzen, sowie die Zustimmung meiner Frau. All diese Größen kann ich nicht oder nur eingeschränkt beeinflussen. Sie sind mir durch die Umstände auferlegt und stecken die Grenzen ab, innerhalb derer ich mich bewegen kann. Diese Rahmenbedingen abzustecken bevor man anfängt, die Lösung zu erarbeiten ist enorm wichtig! Das klingt trivial, ist es in Wirklichkeit aber nicht. Man sagt zwar manchmal, man solle über die Lösung reden und nicht über das Problem, aber das ist ziemlich sinnfrei, solange man das Problem noch gar nicht genau analysiert hat.
Grundsätzliche Erwägungen
Was will ich eigentlich?
Mit dieser Frage zu beginnen, scheint selbstverständlich. Die Antwort ist einfach: Ich will eine automatisierte Bewässerung meines Gartens, bestehend aus einer von Beeten umgebenen Rasenfläche. Die Bewässerung soll zentral gesteuert werden. Der Rasen soll nur von der Rasenkante aus beregnet werden – Regner in der Rasenfläche sind unerwünscht. Außerdem soll die Steuerung die Beregnung automatisch verhindern, wenn eine gewisse Zeit vorher ausreichend Regen gefallen ist und die Bewässerungszeit während besonders heißer Zeiträume verlängern.
Warum will ich es und brauche ich es wirklich?
Im letzten Sommer habe ich inklusive Auf- und Abbau so gut wie jeden Tag fast eine Stunde damit verbracht, die Pflanzen und den Rasen zu wässern. Diese Zeit würde ich gerne für angenehmere Sachen nutzen. Außerdem machen mir Planung und Montage wirklich Spaß – ich sehe, dass sich etwas verändert, dass ich etwas selbst geschaffen habe. Und das ist viel Wert.
Mein eigner Spielverderber sein: Gibt es keine günstigere Alternative?
Würde ich rein nach pekuniären Erwägungen gehen, könnte ich auch einfach eine Batterie einfacher Ventile mit Zeitschaltuhr (gibt es für ein paar € im Baumarkt) irgendwohin setzen, dazu ein paar Regner in die Beete und alles mit 1/2″-Schlauch verbinden. Das reicht eigentlich auch. Würde mich wundern, wenn da mehr als ein niedriger dreistelliger Eurobetrag rum käme. Wäre ich ein Unternehmen, würde ich diesem Gedanken weiter folgen. Ich würde mir bei jedem Schritt die Frage stellen: “Ist diese oder jene Investition notwendig?”
Oft lautet die Antwort Nein und viel öfter noch Nein, aber…, wobei dem Aber… die Konsequenzen folgen, wenn die Investition nicht getätigt wird. Ein Beispiel aus der Industrie könnte sein: “Müssen wir die Premiumgeräte kaufen? Genügt nicht der Standard?”. Die Antwort könnte lauten: Wir brauchen sie nicht generell, aber sie sind natürlich besser. Und an manchen Stellen kommen wir gar nicht drumherum. Zum Beispiel, wenn bei extremen Prozessbedingungen die Standardgeräte schnell versagen würden.”
Im Fall meiner Gartenbewässerung lautet die Antwort auf die Frage nach der Notwendigkeit: “Nein, aber dann kann ich eine Menge coole Sachen nicht machen, wie die Planung, Parametrierung, Montage und mich an der Funktion erfreuen”.
Sind die rechtlichen Rahmenbedingungen in Ordnung?
Da ich keine Chemieanlage, sondern nur eine Bewässerung bauen will, muss ich nicht das vorgeschriebene Genehmigungsverfahren nach BImSchG in die Wege leiten. Das macht die Dinge schon mal einfacher. Allerdings lebe ich ja hier nicht allein, sondern neben meinen Nachbarn und muss natürlich alles so ausführen, dass deren Besitz nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Diesen Punkt werden wir später, wenn ich den EHS-Prozess anreiße, noch etwas ausführlicher besprechen.
Kann ich es mir leisten bzw. wie viel Geld habe ich zur Verfügung?
Ich bin in der glücklichen Lage, jeden Monat ein gewisses Budget für Basteleien aller Art aufwenden zu können und da in der letzten Zeit keine größeren Projekte anstanden, hat sich ein bisschen was angespart. Kein Vermögen, aber immerhin genug, um mich wirklich auszutoben. Ich werde zwar (das wird bei der Detailplanung später klarer) nicht immer genau das realisieren können, was ich gerne hätte – insbesondere, was Gerätetechnik angeht – aber grundsätzlich ist das was mir vorschwebt darstellbar.
Begutachten des Standortes
Wenn man irgendwo was bauen will, ist es sinnvoll, sich zunächst mal dort umzusehen. Die wichtigsten Parameter sind zunächst Größe und Schnitt meines Gartens, sowie die Auswahl der Flächen für Rasen und Beete (außerdem will ich einen kleinen Steingarten anlegen). Damit kann ich später abschätzen, wie viele Regner ich mindestens brauchen werde.
Aber nicht nur der Platz ist wichtig, sondern auch die Verfügbarkeit von Energien. In der Prozessindustrie bezeichnet man Druckluft, Leitungswasser, Wasserdampf und Stickstoff als Energien. Für meine Zwecke brauche ich nur Zugang zu Wasser. Glücklicherweise verfüge ich über einen Tiefbrunnen mit Pumpe, die ich sowieso für die manuelle Gartenbewässerung nutze. Die Pumpe steht in einer kleinen Werkstatt im Anbau. Ich werde also an dieser Stelle vermutlich etwas Arbeit haben, denn zurzeit führt keine Wasserleitung direkt nach draußen. Bei mir zu Hause ist natürlich auch elektrische Energie verfügbar.
Wenn in der Industrie ein Projekt startet, dann kommen solche Fragen auch ziemlich früh. Fast jede Prozessanlage braucht für irgendetwas Dampf oder Stickstoff oder Wasser oder Druckluft. Wenn an einem Standort schon viele Anlagen stehen, dann existieren vielleicht Energienetze, an die man die geplante Anlage anbinden kann. Wenn Standorte neu erschlossen werden müssen, dann ist die Bereitstellung der Energien umständlich und macht die Anlage teurer. Es gibt aber auch die andere Richtung: Viele Anlagen stellen selbst Energien her, z.B. Wasserdampf bei der Kühlung exothermer Prozesse. Wenn es für die erzeugte Energie Abnehmer gibt, die z.B. Wasserdampf brauchen, steigert das sogar die Wirtschaftlichkeit der Anlage. Gibt es aber keine Abnehmer, ist das für die Wirtschaftlichkeit schlecht, denn dann muss die Energie im Zweifel vernicht, z.B. Wasserdampf kondensiert und rückgekühlt werden.
Vom Was? zum Wie?
Das Was haben wir damit geklärt: Wir wissen, was wir wollen und Wir kennen den Standort, die Verfügbarkeit von Energien und Elektrizität, sowie die weiteren Rahmenbedingungen und wir haben uns Gedanken darüber gemacht, ob es nicht Alternativen gibt. Im folgenden werden wir uns damit beschäftigen, wie wir zum Ziel kommen. Und dazu beginnen wir mit der Verfahrenstechnischen Basisplanung.
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