Grenzwerte sind Menschenwerk
Wenn man über Grenzwerte redet und ggf. auch streitet muss man sich klarmachen, dass sie – wie alle Technik – nicht vom Himmel schneien, sondern von Menschen so festgelegt wurden. Natürlich gründen sie in einer angenommenen Gefährdung, aber ihre konkrete Höhe richtet sich nicht nur danach, sondern vor allem daran, wie sicher man die Konzentration des jeweiligen Stoffes messen kann, wie viel Zeit zwischen dem Überschreiten des Grenzwerts und dem Einleiten von Maßnahmen vergeht und welcher Sicherheitsfaktor von den Beteiligten akzeptiert wird.
An dieser Stelle möchte ich etwas sehr deutlich sagen: Ich glaube nicht, dass die Öffentlichkeit zu dieser Frage etwas beitragen kann. Das ist eine gewagte These und sie muss natürlich begründet werden: Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung versteht nicht genug von Messtechnik, Risikomanagement und Sicherheitskonzepten, um sich eine fundierte Meinung zu bilden. Nicht etwa, weil sie zu doof dazu wäre, sondern weil es in unserer äußerst arbeitsteilig organisierten Welt schon schwer genug ist, einigermaßen breit über das eigene Fachgebiet informiert zu bleiben, geschweige denn mehr als die allergröbsten Grundlagen von anderen Fachgebieten zu erlernen. Ich erlebe zwar sehr häufig, dass ein tiefes Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass es absolute Sicherheit nicht gibt, aber praktisch kein Wissen um die Art und Weise, wie man mit technischen Risiken im Allgemeinen umgeht, geschweige denn für den besonderen Spezialfall der Festlegung von Grenzwerten. So müssen ich und andere, die damit beruflich zu tun haben, zunächst eine Menge Fragen klären und falsche Vorstellungen ausräumen, die für uns so grundlegend sind, dass wir im Tagesgeschäft kaum mehr darüber nachdenken. Das ist Mühsam und hat wieder nichts mit den doofen Leuten zu tun, sondern mit der Tatsache, dass niemand auch nur halbwegs über alle Spezialgebiete informiert sein kann, die es so gibt[1]. Das führt zu der Frage, wem man glauben soll, wenn man nicht selbst zufälligerweise Fachkraft ist. Den Experten in den Laboratorien oder benannten Stellen, den Umweltverbänden oder den Politikern? Am Ende das Tages – und das solle man sich in aller Schärfe klarmachen! – hängt die eigene Meinung zu Themen wie Grenzwerten für potenziell gefährliche Stoffe zu einem Gutteil daran, wem man glaubt. Ich wiederhole mich noch mal: Nicht aus Doofheit, sondern weil es gar nicht anders geht. Über sein eigenes Fachgebiet ist man vielleicht im Bilde, über ein oder zwei andere hat man sich informiert, aber mehr ist nicht drin. Und für ein wirklich ausgewogenes Urteil reichen ein paar Zeilen aus der Wikipedia oder einer Zeitung nicht. Ich erlebe das selbst an mir immer wieder – beide Seiten der Medaille. Ich will damit nicht sagen, dass man sich auf alles blind verlassen sollte, aber wenn Mehrzahl der Experten, die für nichts anderes da sind als für Risikoabschätzungen ein Urteil veröffentlicht, dann darf man durchaus annehmen, dass da was Substanzielles dran ist. Das ist äußerst unbefriedigend, aber wie man das Problem wirklich lösen kann, weiss ich auch nicht. Wenn jeder alles wissen wollte, müssten wir ja einen Kopf wie ein Bierfass haben.
Für die Akzeptanz von Grenzwerten ist die Beteiligung der Öffentlichkeit aber immens wichtig. De facto kann man sie nur informieren, aber wenigstens das muss tun und zwar bevor etwas passiert. In früheren Zeiten mag es in Ordnung gewesen sein, wenn Experten im stillen Kämmerlein ihr Ding machen, aber heute geht das nicht mehr. Was in meinen Augen ein großer Fortschritt ist, auch wenn es allen viel Arbeit macht. Was ich allerdings auch immer wieder erlebe ist, wie mit ironischem Unterton die wohl berühmteste Zeile nach einer öffentlich bekanntgemachten Grenzwertverletzung zitiert wird: Es bestand zu keinem Zeitpunkt eine Gefährdung…
[1] Das hat zwar mit dem Thema des Artikels nichts zu tun, aber im Sanitätsdienst trifft man immer wieder auf Leute, die nicht begreifen, warum man was bei wem in welcher Reihenfolge tut oder lässt. Das ist im besten Fall lästig, im schlimmsten Fall halten sie den Helfer vom Helfen ab.
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