Dieser Tage ist im Zuge des Fipronil-Skandals wieder viel von Grenzwerten bzw. deren Überschreitung die Rede. Das ist nicht ungewöhnlich. Menschen wollen informiert werden, wenn irgendwas passiert, das möglicherweise Auswirkungen auf ihre Leben haben könnte. Und wenn in Lebensmitteln die Konzentration bestimmter Stoffe zu groß wird, ist das ein guter Grund, hellhörig zu werden. In vielen Medien wird aber leider das Überschreiten von Grenzwerten sofort mit einer tatsächlichen Gefährdung gleichgesetzt (und noch viel viel häufiger in den zugehörigen Kommentarspalten der Onlineausgaben, wo Leute ihrem Unmut mit zu Haare raufen schlechten Argumenten Luft machen).
Weil auch auf den Scienceblogs hin und wieder die Frage auftaucht, folgt jetzt ein kurzer Abriss darüber, was eigentlich ein Grenzwert ist, wie er festgelegt wird und welche Maßnahmen aus seiner Verletzung folgen.
Was ist ein Grenzwert
Ganz allgemein kann man definieren: Der Grenzwert einer Messung ist eine im Vorfeld festgelegte Schwelle, bei deren Verletzung durch die Messgröße etwas ausgelöst wird. Dieses Etwas kann eine Meldung, Alarmierung, Aktivierung von Notfallplänen oder sonstige Maßnahme sein. Im einfachsten Fall wird einfach ein Automatismus ausgelöst, der die Messgröße so beeinflusst, dass sie einen Wert annimmt, durch den der Grenzwert nicht mehr verletzt ist.
Grenzwerte findet man überall: Raumthermostate steuern oft die Temperatur mit einer Zweipunktregelung, bei der bei Unterschreiten des unteren Grenzwertes die Heizung ein- und bei Überschreiten des Oberen Grenzwertes wieder ausgeschaltet wird – das ist ein Beispiel für Grenzwerte, die ganz normal im normalen Betriebsablauf erreicht werden. Sie dienen nicht dem Schutz, sondern der Steuerung einer Anlage. An der Zapfsäule schaltet die Pumpe automatisch aus, wenn der Tank voll ist und ein aufblasbares Zelt wird durch eine Druckmessung geschützt, die das Bersten der Streben beim Aufstellen verhindert. Diese Grenzwerte dienen dem Schutz des Autos bzw. Zeltes, damit der Tank nicht überläuft oder das Zelt platzt.
Wir beziehen uns hier für das Folgende auf den Spezialfall des Grenzwertes für die Konzentration eines Stoffes im umgebenden Medium, sei es Luft, Wasser oder ein beliebiges Lebensmittel, denn solche Grenzwerte sind von öffentlichem Interesse und werden auch immer mal wieder in den Medien genannt. Sie müssen so niedrig sein, dass bei ihrer Verletzung keine unmittelbare Gefährdung von Menschen zu erwarten ist. Gleichzeitig muss der Grenzwert hoch genug sein, dass der jeweilige Stoff bei routinemäßigen Messungen sicher detektiert werden kann.
Die Höhe des Grenzwerts ermitteln
Die Konkrete Höhe ermittelt man, weil es leider nicht anders geht, heute vor allem im Tierversuch. Tierversuche sind ein ethisches Problem, denn man experimentiert mit fühlenden, lebenden Wesen, um aus ihrer Reaktion Rückschlüsse auf das Gefährdungspotenzial eines Stoffes zu ziehen und nimmt dabei ihren Tod in Kauf oder führt ihn willentlich herbei. Sie sind aber auch ein technisches Problem, denn Tiere sind keine Messgeräte, können nicht kalibriert werden und liefern evtl. nur eingeschränkt vergleichbare Ergebnisse. Wo möglich wird man ein Messgerät oder einen Versuch in der Petrischale dem Tierversuch vorziehen, aber in vielen Fällen sind sie leider das Beste, was man zurzeit hat.
Ein gängiges Verfahren ist z.B. verschiedene Gruppen von Versuchstieren über einen längeren Zeitraum – zwischen zwei Jahren und der gesamten Lebenszeit – mit Nahrung zu füttern, die jeweils unterschiedliche aber für jede Gruppe feste Konzentrationen des zu untersuchenden Stoffes enthält. Aus vergleichen der Gruppen untereinander und mit Kontrollgruppen, die mit nichtkontaminierter Nahrung gefüttert wurden, lässt sich dann abschätzen, bis zu welcher Konzentration der Stoff harmlos ist. Wenn z.B. die Gruppen 1 bis 10, die mit Konzentrationen von 0,0 % bis 0,09 % keine Reaktion auf den Stoff zeigen und ab Gruppe 11 mit 0,1 % eine zunächst sehr kleine, aber konzentrationsabhängig steigende Reaktion folgt, dann ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass man eine physiologisch wirksame Schwelle überschritten hat.
Dabei gibt es ein Problem: Die Gefährdung durch einen Stoff ist ein statistischer Vorgang, d.h. eine Aussage à la: Der Stoff X ist in einer Konzentration von 0,1 %vol ungefährlich ist strenggenommen gar nicht wahr. Näher an der Wahrheit wäre: Der Stoff X hat in einer Konzentration von bis zu 0,1 %vol bei weniger als 0,13 % der Versuchstiere signifikante Reaktionen hervorgerufen.
Gefährdungen haben etwas mit dem Risiko zu tun, definiert als Produkt aus Schadensausmaß und Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit. Da das Risiko ein Spiel mit Wahrscheinlichkeiten und Abschätzungen ist, enthält es eine Komponente fundamentaler Unsicherheit. Ein Grenzwert ist aber schwarz/weiß – er ist entweder verletzt oder nicht verletzt. Dazwischen gibt es nichts.
Um diesem Umstand Rechnung zu tragen und die fundamentale Unsicherheit statistischer Vorgänge zumindest in eine praktisch handhabbare Form zu bringen, werden die Grenwerte unter Berücksichtigung eines Sicherheitsfaktors, gängiger wese in der Größenordnung von 100, festgelegt. Das bedeutet, dass eine Stoffkonzentration in Höhe des Grenzwertes multipliziert mit 100 gerade so die Schwelle erreicht, bei der sich im Tierversuch die ersten Reaktionen gezeigt haben. Der Grenzwert für den Stoff in unserem Beispiel würde also bei 0,001 %vol festgelegt – 10 ml/m³.
Dieser Wert muss bei Routinekontrollen sicher detektiert werden können und das ist unter Umständen gar nicht so einfach, denn je nach Einsatzgebiet und Anforderung werden besondere Anforderungen an die Messtechnik, vor allem die verwendeten Analysengeräte gestellt. Vereinfacht ausgedrückt gibt es zur Konzentrationsmessung zwei Klassen von Analysengeräten, die man Labor- und Betriebsmessgeräte nennen könnte.
Labormessgeräte sind genauer und haben eine höhere Auflösung, dafür reagieren sie empfindlicher auf die Umgebungsbedingungen (Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Vibration, etc) und die Aufbereitung der Probe. Beispiele dafür sind Gaschromatographen und Massenspektrometer. Im Labor werden für gewöhnlich diskontinuierlich gezogene Proben gemessen. Betriebsmessgeräte sind nicht so genau, aber dafür robuster. Sie sind oft für kontinuierlichen Einsatz vorgesehen, z.B. Gaswarngeräte oder pH-Messungen oder die Luftmessungen in den Innenstädten.
Eskalierendes Grenzwertkonzept
Die Erfahrung lehrt, dass es nicht zweckmäßig ist, für die Konzentration eines potentiell gefährlichen Stoffes nur einen einzelnen Grenzwert festzulegen.
Im einfachsten und am häufigsten zu findenden Fall werden zwei Grenzwerte festgelegt – ein niedriger, bei dem zunächst nur alarmiert wird und ein hoher, bei dem Maßnahmen ergriffen werden. In Rheinland-Pfalz heißt der erste Grenzwert Informationsschwelle, bei deren Überschreiten das Landesamt für Umwelt die Bevölkerung informiert. Wichtig ist, dass zu diesem Zeitpunkt noch keine Gefährdung für Mensch und Umwelt ausgeht! Das Überschreiten der Informationsschwelle bedeutet eine Abweichung von der Norm in einer Größenordnung, die nicht mehr durch zufällige Schwankungen erklärt werden kann, die also eine nachvollziehbare Ursache haben muss. Wenn das passiert, wissen die Verantwortlichen, dass sie die Messwerte und besonders die Tendenz (steigt oder fällt der Messwert mit der Zeit?) besonders gut im Auge behalten müssen. Gleichzeitig können sie schon mögliche Ursachen abklopfen: Gab es einen Störfall in einem Unternehmen oder eine andere Katastrophe, z.B. einen Unfall mit Gefahrstoffen oder einen Großbrand? Ist es ein Terroranschlag? Oder hat es gar eine natürliche Ursache?
Erst wenn ein zweiter Wert, der in Rheinland-Pfalz Alarmschwelle heißt überschritten wurde werden Maßnahmen getroffen. Diese können kurz- oder langfristige Auswirkungen haben: Aus meiner Kindheit sind mir noch deutlich die regelmäßigen Fahrverbote im Hochsommer erinnerlich, wenn über einer heißen Landstraße ein feiner aber deutlich wahrnehmbarer Ozongeruch lag. Heute sind Ozonwarnungen eher selten (nebenbei ein Zeichen dafür, wie viel besser die allgemeine Luftqualität im Vergleich zu vor 25 Jahren ist), dafür rückten Feinstaub und Stickoxide in den Vordergrund. Zum Schutz der Bevölkerung wurden in vielen Städten mittlerweile Umweltzonen eingerichtet, in denen nur noch Autos zugelassen sind, die einen bestimmten Schadstoffausstoß unterschreiten. Ein zeitlich begrenztes Fahrverbot ist eine kurzfristige Maßnahme, eine Erweiterung der Umweltzone eine langfristige. Das Überschreiten der Alarmschwelle bedeutet immer noch nicht, dass jetzt zwingend eine Gefährdung vorliegt! Es bedeutet aber, dass jetzt gehandelt werden muss, damit es gar nicht erst so weit kommt!
Grenzwerte sind Menschenwerk
Wenn man über Grenzwerte redet und ggf. auch streitet muss man sich klarmachen, dass sie – wie alle Technik – nicht vom Himmel schneien, sondern von Menschen so festgelegt wurden. Natürlich gründen sie in einer angenommenen Gefährdung, aber ihre konkrete Höhe richtet sich nicht nur danach, sondern vor allem daran, wie sicher man die Konzentration des jeweiligen Stoffes messen kann, wie viel Zeit zwischen dem Überschreiten des Grenzwerts und dem Einleiten von Maßnahmen vergeht und welcher Sicherheitsfaktor von den Beteiligten akzeptiert wird.
An dieser Stelle möchte ich etwas sehr deutlich sagen: Ich glaube nicht, dass die Öffentlichkeit zu dieser Frage etwas beitragen kann. Das ist eine gewagte These und sie muss natürlich begründet werden: Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung versteht nicht genug von Messtechnik, Risikomanagement und Sicherheitskonzepten, um sich eine fundierte Meinung zu bilden. Nicht etwa, weil sie zu doof dazu wäre, sondern weil es in unserer äußerst arbeitsteilig organisierten Welt schon schwer genug ist, einigermaßen breit über das eigene Fachgebiet informiert zu bleiben, geschweige denn mehr als die allergröbsten Grundlagen von anderen Fachgebieten zu erlernen. Ich erlebe zwar sehr häufig, dass ein tiefes Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass es absolute Sicherheit nicht gibt, aber praktisch kein Wissen um die Art und Weise, wie man mit technischen Risiken im Allgemeinen umgeht, geschweige denn für den besonderen Spezialfall der Festlegung von Grenzwerten. So müssen ich und andere, die damit beruflich zu tun haben, zunächst eine Menge Fragen klären und falsche Vorstellungen ausräumen, die für uns so grundlegend sind, dass wir im Tagesgeschäft kaum mehr darüber nachdenken. Das ist Mühsam und hat wieder nichts mit den doofen Leuten zu tun, sondern mit der Tatsache, dass niemand auch nur halbwegs über alle Spezialgebiete informiert sein kann, die es so gibt[1]. Das führt zu der Frage, wem man glauben soll, wenn man nicht selbst zufälligerweise Fachkraft ist. Den Experten in den Laboratorien oder benannten Stellen, den Umweltverbänden oder den Politikern? Am Ende das Tages – und das solle man sich in aller Schärfe klarmachen! – hängt die eigene Meinung zu Themen wie Grenzwerten für potenziell gefährliche Stoffe zu einem Gutteil daran, wem man glaubt. Ich wiederhole mich noch mal: Nicht aus Doofheit, sondern weil es gar nicht anders geht. Über sein eigenes Fachgebiet ist man vielleicht im Bilde, über ein oder zwei andere hat man sich informiert, aber mehr ist nicht drin. Und für ein wirklich ausgewogenes Urteil reichen ein paar Zeilen aus der Wikipedia oder einer Zeitung nicht. Ich erlebe das selbst an mir immer wieder – beide Seiten der Medaille. Ich will damit nicht sagen, dass man sich auf alles blind verlassen sollte, aber wenn Mehrzahl der Experten, die für nichts anderes da sind als für Risikoabschätzungen ein Urteil veröffentlicht, dann darf man durchaus annehmen, dass da was Substanzielles dran ist. Das ist äußerst unbefriedigend, aber wie man das Problem wirklich lösen kann, weiss ich auch nicht. Wenn jeder alles wissen wollte, müssten wir ja einen Kopf wie ein Bierfass haben.
Für die Akzeptanz von Grenzwerten ist die Beteiligung der Öffentlichkeit aber immens wichtig. De facto kann man sie nur informieren, aber wenigstens das muss tun und zwar bevor etwas passiert. In früheren Zeiten mag es in Ordnung gewesen sein, wenn Experten im stillen Kämmerlein ihr Ding machen, aber heute geht das nicht mehr. Was in meinen Augen ein großer Fortschritt ist, auch wenn es allen viel Arbeit macht. Was ich allerdings auch immer wieder erlebe ist, wie mit ironischem Unterton die wohl berühmteste Zeile nach einer öffentlich bekanntgemachten Grenzwertverletzung zitiert wird: Es bestand zu keinem Zeitpunkt eine Gefährdung…
[1] Das hat zwar mit dem Thema des Artikels nichts zu tun, aber im Sanitätsdienst trifft man immer wieder auf Leute, die nicht begreifen, warum man was bei wem in welcher Reihenfolge tut oder lässt. Das ist im besten Fall lästig, im schlimmsten Fall halten sie den Helfer vom Helfen ab.
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