Der 17. Oktober 2016 war für mich eine Zäsur.

Gegen 11:30 Vormittag gerieten Rohrleitungen im Landeshafen Nord, einem Binnenhafen in Ludwigshafen am Rhein beim BASF-Stammwerk Ludwigshafen in Brand. Die Feuerwehr war innerhalb von Minuten vor Ort. Kurze Zeit nach Beginn der Löscharbeiten kam es zu einer heftigen Explosion. Drei Menschen verloren unmittelbar ihr Leben, acht wurden zum Teil sehr schwer verletzt. Vier davon erlitten schwere Brandwunden, es gab viele Leichtverletzte.

Es war der erste Unfall im Werk mit Toten während meines Arbeitslebens.

Ich war zu diesem Zeit auf der Autobahn bei Kassel. Davon erfahren habe ich durch WhatsApp-Nachrichten an meine Frau, bei der sich Freunde erkundigten, ob es mir gut geht. Zu diesem Zeitpunkt war nur von Vermissten die Rede, aber die Bilder, die man im Netz sehen konnte, versprachen nichts Gutes.

In der Zeitung waren ein paar Tage später die Todesanzeigen zu lesen. Ich kannte keinen der Toten persönlich, war nur insofern involiert, als wir alle dieselben vier Buchstaben auf dem Hemd stehen haben. Aber ich dachte oft an den Mann auf dem Schiff, der zur falschen Zeit am falschen Ort war und die Feuerwehrleute, die kamen um zu helfen und bereit waren, dafür ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

Für mich hat dieser Unfall gezeigt, auch wenn das zunächst kontraintuitiv zu sein scheint, dass die ganzen Spiele mit Wahrscheinlichkeiten, die unseren Risikoabschätzungen zugrunde legen, doch irgendwo plausibel sind. Es gibt nicht nur die 99,x Prozent der Fälle, bei denen nichts passiert – es gibt auch die anderen 0,x Prozent und es gibt sie wirklich. Sie realisieren sich. Sie sind furchtbar. Wir blenden Sie nicht aus, meine Kollegen und ich, bei unser täglichen Arbeit, wir sind uns ihrer immer bewusst. Aber wenn wirklich etwas passiert, sind wir genauso erschüttert, wie alle anderen.

Dass es absolute Sicherheit nicht geben kann, ist eine Binsenweisheit. Und ehrlicherweise finde ich dieses Verständnis in meinem Bekannten- und Freundeskreis sehr oft. Nur die extrem Naiven glauben, man könne Dinge schaffen, die nie versagen oder fehl gehen – Unsicherheit ist ein fundamentales Merkmal unserer Welt. Und doch hadere ich in diesen Tagen damit.

Ich sage oft, dass die Zeit vorbei ist, in der schwere Unfälle mit Toten eben irgendwie zum Betrieb einem Industriebetrieb von der Größe der BASF gehörten. Natürlich nicht gerade auf täglicher Basis, aber aufs Jahr, aufs Jahrzehnt gesehen. Ich denke, dass der Unfall vom 17. Oktober den Menschen hier noch lange in Erinnerung bleiben wird, gerade weil solche Unfälle heute so viel seltener sind.

 

14 Tage später

14 Tage nach dem Unfall erreicht mich die Mail meines Kollegen aus der Ausbildung Johann, anbei ein Link zur Homepage der Freiwilligen Feuerwehr Neustadt. Ich klicke ihn an. Das Herz rutscht mir in den Magen.

Am 29. Oktober 2016 hatte einer der verletzten Feuerwehrleute seinen Kampf gegen die furchtbaren Brandwunden verloren. Ich kenne den Namen. Ich habe das Gesicht sofort vor Augen. Er war auch in unserer Ausbildungsgruppe. Er war mein Kollege, drei Jahre lang. Ich kann nicht fassen, dass er tot sein soll.

Am nächsten Tag spreche ich mit Johann, dann suche ich die E-Mail-Adressen aller Kollegen von damals, die ich noch kenne heraus und leite ihnen Johanns Mail weiter. Fassungslosigkeit. Das alles fühlt sich so unwirklich an.

Wenn ein Feuerwehrmann im Einsatz ums Leben kommt, finde ich das immer besonders tragisch, denn die Feuerwehrleute sind nicht einfach Opfer höherer Gewalt, sind nicht einfach zur falschen Zeit am falschen Ort, sondern sie gehen aktiv an den falschen Ort um andere zu retten. Christoph war ein Feuerwehrmann wie aus dem Bilderbuch: Mit 14 bei der Jugendfeuerwehr, engagiert in der Freiwilligen Feuerwehr seines Heimatortes, nach der Ausbildung bei der Werkfeuerwehr der BASF und dort seit über zehn Jahren. Ich bin sicher, er wusste, was zu seinem Beruf gehört.

Ich kann nicht behaupten, dass ich mich damals mit ihm gut verstanden hätte. Eher im Gegenteil. Wir haben auch nie direkt zusammengearbeitet, aber doch drei Jahre lang Seite an Seite. Wir haben dieselbe Lehre gemacht, dieselben Prüfungen abgelegt, eine wichtige Phase unseres Lebens miteinander verbracht. Sein Tod geht nicht spurlos an mir vorbei.

Christoph war jung verheiratet – Ich bin es auch. Was, wenn ich zur falschen Zeit am falschen Ort bin? Ich kann mit dem Risiko leben, denn es ist klein. Aber ich bin mir sehr bewusst, dass es nicht null ist. Wir sind keine Schokoladenfabrik.

Der Unfall hat mich jetzt auch persönlich eingeholt. Ich bin weit davon entfernt, Betroffener im Sinne eines Verwandten oder guten Freundes zu sein, aber Ich bin kein Unbeteiligter mehr.

 

Trauer

Noch mal Zehn Tage später, gegen 13:00 Uhr. Ich bin auf der Autobahn, Richtung Neustadt. Es regnet. Christophs Familie wollte ihn im kleinsten Kreis beisetzen, aber es gibt eine Trauerfeier. Verständlich – sicher werden viele kommen. Die Feuerwehr steht am Ortseingang bereit, bietet einen Shuttleservice zur Kirche an, damit es kein Verkehrschaos gibt. Sie sind gut organisiert.

Die kleine Kirche ist bis auf den letzten Platz besetzt, auch die Stehplätze. Auf der Empore spielt der Musikverein. Ich trage mich ins Kondolenzbuch ein, unter viele viele Namen. Links ist das Photo eines lachenden Christophs abgebildet, darunter Geburts- und Sterbedatum. In mir bebt es. Dieser Mensch soll nicht mehr da sein? Nie mehr? Meine Hände sind erstaunlich ruhig, meine Unterschrift gelingt phantastisch.

Es sind tatsächlich viele gekommen – Zwei-, Dreihundert werden es ganz sicher sein. Schon eine Stunde vor dem offiziellen Termin ist die Kirche voll; für mich ist drinnen klein Platz mehr, also suche ich mir einen Ort nahe des Eingangs. Vielleicht kommen noch ein paar andere alte Kollegen und sehen mich. Alte Kollegen – wie seltsam das klingt. Wir sind ja alle erst Anfang 30. Es hat aufgehört zu regnen, aber es ist kalt.

Die Glocken beginnen zu Leuten und ich betrachte die Gesichter um mich. Die meisten sind Feuerwehrleute von fast allen Wehren im Umkreis, sogar aus Mainz sind Leute angereist. Vom THW und DRK sind auch Leute da. Helfen schweißt zusammen. Das sind Menschen, die sich dafür entschieden haben, Leben zu retten. Sie sehen so aus wie ich, mit Kopf und Hals und den vier Extremitäten. Äußerlich unterscheidet uns nichts, aber ich weiss nicht, ob ich das Zeug für ihre Arbeit hätte. Viele haben die Augen geschlossen, sind in sich gekehrt, ein paar Meter von mir fällt ein Mann einer jungen Frau in die Arme und unterdrückt mühsam ein Schluchzen. Meine Augen werden feucht.

Erstaunlich, wie mich Christophs Tod bewegt. Damals haben wir uns nicht gemocht. Wie wäre es gewesen, hätten wir uns heute getroffen, fast 15 Jahre später, fast doppelt so alt, um so vieles mehr erfahren? Wie wären wir miteinander umgegangen? Was hätten wir gesprochen? Das sind die Fragen, die ich mir Stelle, auf dem kalten Vorplatz, während die Glocken klingen.

Die Feier selbst ist schön gestaltet. Sein Vater und seine Frau sprechen ein paar Worte – ich kann sie nur für ihre Kraft bewundern. Danach stellt seine Familie Dinge vor, die ihm wichtig waren – sein Haus, der Musikverein, die Familie… und natürlich die Feuerwehr. Schließlich sprechen der Leiter der Werkfeuerwehr und ein paar Honoratioren aus Mainz.

Ganz zuletzt spielt der Musikverein Somewhere Over The Rainbow. Würde ich sitzen und nicht stehen, wären meine Füße nicht so eiskalt, würde ich jetzt Christophs Bild vor Augen haben – ich glaube, mir würden auch die Tränen kommen.

Als die Feier zu Ende ist, mache ich mich zu Fuß auf den Weg zurück, es sind ja nur ein paar Hundert Meter – gut für meine Füße, die tauen wieder auf. Unterwegs sehe ich ein kleines Kind, das begeistert “Feuerwehr! Feuerwehr!” ruft und die Feuerwehrleute mit großen Augen anguckt.

Kurz vor dem Auto begegnet mir doch noch ein Kollege aus der Ausbildung. Damals hätte ich ihm die Pest an den Hals gewünscht. Heute reden wir ganz normal miteinander – so normal, wie es in dieser Situation eben geht: Er ist genau so betroffen wie ich. Als wir uns die Hand geben, denke ich: “Sieh da, er hat auch nen Ring am Finger.” Schon interessant, was sich mit den Jahren alles ändert.

Auf dem Weg nach Hause nieselt es. Das Wetter ist dem Anlass angemessen.

Ich denke daran, dass in der BG-Unfallklinik noch zwei schwer Brandverletzte um ihr Leben kämpfen. In Deutschland gibt es dafür kaum ein besseres Haus. Aber Brandwunden sind heimtückisch. Christoph hatte es schlimm erwischt – er hat fast zwei Wochen gekämpft. Und die andern beiden sind auch noch nicht über den Berg. Wollen wir hoffen, dass sie überleben. Für Feuerwehrleute gab es dieses Jahr schon zu viele Trauerfeiern.

 

Was bleibt

Die furchtbare Bilanz ein Jahr nach dem Unfall sind fünf Tote, fünf lebende Schwerzverletzte und über 30 Leichtverletzte. Unfassbar für alle ist 11 Monate nach dem Unfall ein vierter Feuerwehrmann seinen Verletzungen erlegen. Mir war zu diesem Zeitpunkt gar nicht bewusst, dass überhaupt noch jemand im Krankenhaus liegt. Es dauert eben doch sehr lange, bis die körperlichen Wunden zumindest einigermaßen verheilen. Die seelischen Wunden, die der Unfall geschlagen hat, werden nie ganz verschwinden.

Kommentare (4)

  1. #1 Hobbes
    17. Oktober 2017

    Ich fahre nebenbei auch im Rettungsdienst und wurde vor einem Jahr morgens auch von 2 Leuten abgelöst die dann einen Unfall hatten und samt Patient verstorben sind. Ich kann mich auch noch gut erinnern, wie unwirklich sich das angefühlt hat als ich die Nachricht bekam. Einer der Kollegen die als erstes bei der Unfallstelle waren hat meines wissens auch den Job gewechselt.
    Erstaunlich ist auch wie unterschiedlich die Leute damit umgehen. Ich persönlich gehöre zu den Leuten die so etwas verdrängen und dann Stück für Stück aufarbeiten.

    • #2 Oliver Gabath
      20. Oktober 2017

      Irgendwie hab ich das Gefühl, wir haben erstaunlich viel gemeinsam – ich fahre zwar nicht im Regelrettungsdient, aber gehöre in unserem Landkreis zur SEG-SAN und nehme jeden Sanitätswachdienst wahr, zu dem ich gehen kann.

      Ich hab ehrlicherweise keine Ahnung, wie ich damit umgehen würde, wenn HiOrg-Kammeradinnen oder -Kammeraden im Einsatz ums Leben kommen, die ich persönlich kenne – mit Christoph hatte ich ja viele Jahre keinen Kontakt mehr, aber es hat mich damals ganz schön mitgenommen. Was auch immer die Umstände: Plötzlich auf der Beerdigung oder Trauerfeier von jemandem zu stehen, den man kennt und der unerwartet aus dem Leben gerissen wurde fühlt sich wohl immer unwirklich an…

  2. #3 PippiLotta
    18. Oktober 2017

    Auch ich arbeite in den beiden Welten Feuerwehr und Sicherheitstechnik, befasse mich tagtäglich mit den Wahrscheinlichkeiten für Fehler und Co. Natürlich hat man immer die Wahrscheinlichkeit im Kopf bei der nix passiert, die andere Seite versucht man auf das kleinstmögliche zu reduzieren und blendet sie dann aus.
    Aber sehr wenig wahrscheinlich bedeutet leider nie ausgeschlossen.

    Die Nachbesprechung so mancher (eigener, fremder) Einsätze zeigt dann, dass so manche Entscheidung aus einem anderen Blickwinkel gar nicht mehr so richtig wirkt. Und ich bin sehr froh, dass in meinem Umfeld bisher niemand zu Schaden kam und hoffe dass wir immer weiter lernen und dafür arbeiten (in beiden Welten, Feuerwehr und Sicherheitstechnik) Wahrscheinlichkeiten und Ausmaße zu reduzieren.

    • #4 Oliver Gabath
      20. Oktober 2017

      Ich glaube, dass ist vielen Leuten, die nie über große Summen oder menschliche Schicksale entscheiden müssen oft gar nicht klar. Ich hab für meine kleine Serie über Planung schon die nächsten Beiträge fast fertig und da geht es viel darum, dass ich mich für dieses oder jenes Konzept, für dieses oder jenes System und für dieses oder jenes Produkt entschieden habe. Wohlweisslich, dass ich mich auch irren kann. In der Tat ist das bei meiner täglichen Arbeit immer wieder mal der Fall. Egal wie gut man sich versucht abzusichern, bei jedem Projekt gibt es ein paar Entscheidungen, für die es am Ende keine wirklich bessere Begründung gibt, als die, “dass ICH das so entschieden habe. Mir ist klar, dass man es auch anders machen kann und andere mögen es anders sehen, aber aufgrund meiner Erfahrung und Expertise bin ich der Meinung, eine gute Entscheidung getroffen zu haben, die ich auch bereit bin zu verteidigen.”

      Aber da geht es nur um Geld, deshalb wieder ein Beispiel aus dem Rettungsdienst:

      Triage macht der Notarzt oder das erste an der Einsatzstelle eintreffende Fahrzeug. In Deutschland ist der Regelrettungsdienst zwar meistens als erstes vor Ort, aber unter Umständen nicht immer. Was, wenn die SEG doch vor dem Notarzt da ist? Vielleicht brauchen viele Menschen Hilfe – aber wer am nötigsten? Wenn kein Arzt mit dabei ist, entscheidet der mit der höchsten medizinischen Qualifikation oder der Gruppenführer. Und so wird der Karl vom KegelKlub auf einmal zum Herrn über Leben und Tod. So was geht schon bei Übungen an die Nerven. Wie erst im richtigen Einsatz.