Als jemand, der in der Prozessindustrie zu Hause ist und sich beruflich viel mit sicherheitsgerichteten Systemen beschäftigt, halte ich z.B. vor allem die Elimination des Faktors Mensch bei der Entscheidungsfindung in kritischen Situationen für ein erstrebenswertes Ziel. Ich bin der Meinung, dass eine sauber aufgebaute Sicherheitssteuerung das Gros aller kritischen Situationen besser beherrschen kann, als ein Mensch und aus den laufenden Pilotprojekten heraus schon sehr gute Ansätze entwickelt werden können. Ich bin des Weiteren der Meinung, dass es einige besondere Situationen gibt, in denen Menschen besser entscheiden können, als eine noch so gut entworfene Sicherheitssteuerung, weil ein automatisches System heute nun mal nicht die ganze Vielfalt aller Fälle beherrschen kann. Man kann das durchaus so sehen, dass selbstfahrende Autos in einem gewissen Zeitraum eine Anzahl Unfälle verursachen werden, die von menschlichen Fahrern unter gleichen Bedingungen vermutlich vermieden worden wären. Ich bin allerdings der Meinung, dass deren Anzahl vermutlich klein wäre gegenüber der Anzahl Unfälle, die im gleichen Zeitraum durch die Steuerung vermieden werden konnten.
Ein Gegner der selbstfahrenden Autos könnte an genau diesem Argument ansetzen und es ins Gegenteil verkehren: Wenn ich über einen bestimmten Unfall, bei dem Max und Nina Mustermann samt kleiner Tochter Nathalie in ihrem ausgebrannten Fahrzeug umgekommen sind, mit hoher Wahrscheinlichkeit sagen kann, dass es technisches Versagen war und nicht menschliches und ich vorher sogar wusste, dass dieser Fall eintreten kann, bin ich dann nicht mitverantwortlich dafür, dass diese kleine Familie nicht mehr lebt? Das ist im Grunde eine uralte und beileibe nicht auf Technik beschränkte Frage – Ist es ethisch vertretbar, den Tod eines unschuldigen Menschen zu verursachen, wenn ich dafür zwei unschuldige Menschen rette? Und wie bewerte ich diese Unfallopfer, wenn sie nicht nur Zahlen in der Statistik sind, wenn nicht gesagt werden kann, dass sie auch durch menschliches Versagen hätten umkommen können, sondern dass ihr Tod wahrscheinlich aufgrund einer Fehlinterpretation der Situation durch das Leitsystem verursacht wurde? Menschen haben Gesichter – an die denkt man, das ist menschlich. Die wecken Emotionen. Was, wenn meine Frau im falschen Auto sitzt?
Ich könnte dann damit argumentieren, dass während der Zeit des menschengesteuerten Individualverkehrs im gleichen Zeitraum, in dem nur Familie Mustermann umgekommen ist, vielleicht Tausend, Hundert oder auch nur Zehn Menschen umgekommen wären und die Unfall- und Personenschadensquoten seit damals allgemein enorm gesunken sind. Ich finde, so es zutrifft, dass das in der Tat ein gutes Argument ist, aber wird sich dem die Mehrheit – auch die Mehrheit der Techniker – anschließen? Menschenleben wiegt man nicht leichtfertig gegeneinander ab.
Dann ist, abgesehen von der Sicherheit, Auto fahren auch nicht nur eine Frage des Transportes von A nach B, sondern eine der wenigen echten Zäsuren im Leben eines jungen Menschen. In einer Welt, in der es nur noch sehr wenige Rituale gibt, ist der Führerschein für viele junge Leute ein greifbares und sichtbares Zeichen des Erwachsenwerdens. Mit dem Führerschein erwirbt sich jeder ein großes Stück individueller Freiheit, die erfahrungsgemäß zäh verteidigt wird. Der Erfolg oder Misserfolg selbstfahrender Autos hängt in meinen Augen nicht primär davon ab, dass die Technik funktioniert, sondern wie die Gesellschaft – und das ist nicht ein fremdes, abstraktes Konstrukt; das sind wir alle – sie bewertet.
Es gibt noch Hundert andere gute Fragen und über viele werden wir hoffentlich auch in diesem Blog noch sprechen. Selbstfahrende Autos sind erst mal ein Beispiel dafür, was man alles beim Einsatz von Technik bedenken, mit was für Problemen nichttechnischer Art man sich beschäftigen und warum tatsächlich darüber diskutiert werden muss.
Solcher Art hypothetische Fragen stelle ich mir häufig, andere praktischere Fragen wie z.B. “Ist die Energiewende richtig?”, “Ist der Kernenergie-Ausstieg richtig?”, “Sollte es eine Impfpflicht geben?”, “Welchen Stellenwert sollte die Gentechnik haben?”, diskutieren wir als Gesellschaft fortdauernd und endgültige Entscheidungen, sind dabei erfahrungsgemäß nur Vereinbarungen auf Zeit. Deswegen stelle ich wirklich ganz naiv die Frage: “Quo Vadis, Technik?”, weil ich nur sehen kann, welchen Weg sie bisher gegangen ist, aber nicht, welchen sie zukünftig gehen wird.
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