Zuletzt gehört zur Kontrolle eines Technischen Prozess auch eine Messeinrichtung, denn ohne präzise Messungen kann man keine Aussagen über dessen aktuellen Zustand treffen. Für die Kontrolle der Kettenreaktion ist die wichtigste Messgröße damals wie heute der Neutronenfluss, also die Anzahl der in der Spaltzone befindlichen Neutronen in Abhängigkeit der Zeit. Die Wissenschaftler mussten schon im Vorfeld abschätzen, wie groß der Messbereich würde sein müssen, damit alle Zustände sicher würden erfasst werden können. Das Messgerät musste auch ausreichend genau sein, die drei Zustände ansteigender, stationärer und sinkender Neutronenfluss sicher zu unterscheiden. Die Messeinrichtung zu bauen war Aufgabe von Leona Woods, der meines Wissens nach einzigen Frau im Team und einer der wenigen Frauen im Manhattan-Project, die aktiv an der Entwicklung mitarbeiteten.
In der Reaktorphysik ist eine der wichtigsten Größen die Kritikalität als ein Maß für die zeitliche Entwicklung des Neutronenflusses, ausgedrückt durch den Multiplikationsfaktor k. Durch das Ein- und Ausbringen von Absorbermaterial in die Spaltzone kann man k verändern. Wenn k < 1 ist der Reaktor unterkritisch: das heißt, dass nicht genug Neutronen bei der Kettenreaktion freiwerden bzw. zu viele Neutronen absorbiert werden, um diese zu erhalten. Die Kettenreaktion nimmt ab, die Leistung des Reaktors sinkt. Ist k = 1 ist der Reaktor kritisch: das ist der stationäre Zustand, in dem Leistung und Neutronenfluss konstant sind. Ist k > 1 ist der Reaktor überkritisch: Neutronenfluss und Leistung steigen, die Kettenreaktion schwillt an. Die Zustände k ungleich 1 müssen für An- und Abfahrvorgänge beherrscht werden. Um einen Eindruck davon zu geben, was viel oder wenig ist: Ohne jetzt genau auf die Physik einzugehen[1] bedeutet in einem idealen Reaktor ohne Neutronenverluste ein k > 1,0068 für Uran den Start einer fast unkontrollierbaren Kettenreaktion, für Plutonium liegt der Faktor sogar bei k > 1,0022. In der Wirklichkeit, wo immer Neutronen aus dem Reaktor entkommen, ohne an Kernspaltungsreaktionen beteiligt zu sein muss k immer noch Werte nicht größer als etwa 1,03 haben, damit die Kettenreaktion stabil läuft.
Zu Testen ob die vorhandenen Daten stimmen, ob die gemachten Experimente richtig interpretiert wurden, ob die Vorhersagen der Theorien sich bewahrheiten – das waren die Ziele, die man mit CP-1 verfolgte und er sollte die Erwartungen voll erfüllen. An jenem 02. Dezember 1942 gegen 14:00 Ortszeit entfernte George Weil zum Auftakt des erfolgreichen Experiments, nachdem ein erster Versuch am Vormittag abgebrochen werden musste, den ersten Absorberstab. Anderthalb Stunden später interpretierte Enrico Fermi aus den Messdaten, dass die Kettenreaktion in Gang sei. Eine halbe Stunde später, nachdem die Messgeräte einen unzulässig großen Neutronenfluss anzeigten, wurde das Experiment beendet. Geschichte war geschrieben worden: die erste von Menschen gemachte nukleare Kettenreaktion. Es war die Geburtsstunde der Kernenergie.
CP-1 sah primitiv aus, war aber durchdacht. Im Prinzip enthielt er schon alles, was für einen Kernreaktor nötig ist. Seine kruden Formen täuschen über die in vielen Experimente gewonnene Erfahrung hinweg, ohne die weder Geometrie der Anlage, noch Anordnung von Spaltstoff, Absorberstäben und Messgeräten, noch die praktischen Fertigkeiten im Umgang mit den Kontroll- und Sicherheitseinrichtungen möglich gewesen wären. Im Zuge der Jahre 1941/1942 wurden rund 30 kleinere Versuchsanlagen gebaut, mit denen man Schritt für Schritt dem großen Ziel näher rückte. An anderer Stelle (und witziger weise auch in Bezug auf Kernreaktoren) habe ich angedeutet, wie wichtig es ist, erst mit kleinen Anlagen Erfahrungen zu sammeln und peu à peu die Größe zu steigern. CP-1 ist dafür ein gutes Beispiel. So bahnbrechend er war, so wenig kam er aus dem Nichts und so sehr war er selbst Teil eines viel größeren Prozesses, nämlich der Entwicklung der Kernwaffen.
Auf einer abstrakten Ebene bestand CP-1 aus denselben Baugruppen, wie praktisch alle Anlagen, in denen irgendein Prozess abläuft: Ein Teil setzt den Prozess in Gang (Neutronenquelle), ein Teil erfasst Daten aus dem Prozess (Neutronendetektor), ein Teil beeinflusst den Prozess (Moderator und Absorberstäbe). Was das Experiment so besonders macht, ist seine Abhängigkeit von der Richtigkeit theoretischer Modelle. Die Wissenschaflter und Techniker mussten auf Basis ganz weniger experimenteller Daten eine Maschine bauen, die einen nie vorher willentlich herbeigeführten Effekt nicht nur darstellen, sondern auch beherrschen und wieder kontroliiert beenden konnte. Eine gute Theorie der Kernphysik, die verlässliche Aussagen über Prozesse ermöglicht, die potentiell kataklysmische Energien freisetzen können, wenn sie unkontrolliert ablaufen, war unabdingbare Voraussetzung dafür, dass CP-1 so gebaut und betrieben werden konnte.
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