Samstag vor einer Woche wurde die Kernenergie 75 Jahre alt. Alles Gute nachträglich! Und entschuldige, dass ich nicht zur Party kommen konnte.
Am 02. Dezember 1942 gelang einer Gruppe Wissenschaftler unter Leitung von Enrico Fermi in Amerika ein großer Erfolg. Unter der Tribüne einer Sporthalle der University of Chicago bauten sie den Chicago Pile-1, den ersten von Menschen gebauten Kernreaktor, in dem eine nukleare Kettenreaktion willentlich gestartet, erhalten, kontrolliert und willentlich beendet werden konnte. Er erbrachte den Beweis für die weniger als zehn Jahre zuvor aufgestellte Theorie, dass in einer genügend großen Masse spaltbaren Materials eine Energie freisetzende, sich selbst erhaltende, nukleare Kettenreaktion ablaufen sollte.
Eine nukleare Kettenreaktion läuft in etwa folgendermaßen ab: Ein freies Neutron wird von einem Atomkern eines Spaltstoffes absorbiert, die Anordnung von Protonen und Neutronen im Kern wird gestört. Durch diese Störung gerät der Kern in Schwingungen und zerfällt schließlich in Spaltprodukte, wobei 2-3 Neutronen frei werden, die in alle Richtungen fliegen können und von denen ein Teil aus dem Reaktor entkommen wird, der dann für die Kettenreaktion verloren geht. Der Rest kann neue Kerne spalten, die neue Neutronen freisetzen und so weiter. 1942 war das noch eine theoretische Möglichkeit. Für chemische Prozesse waren Kettenreaktionen zwar schon beobachtet worden, aber keiner wusste, ob sich der Atomkern ebenso verhalten würde. CP-1 wurde gebaut, um diese Frage zu klären.
Dabei gibt es etwas wichtiges zu beachten: Die Vorstellung, dass ein Neutron den Atomkern spaltet wie ein Keil den Holzscheit ist so nicht richtig. Vielmehr wird das Neutron absorbiert und zwingt die Nukleonen im Kern dazu, sich neu anzuordnen. Die dadurch ausgelöste Unruhe lässt den Kern instabil werden und schließlich zerfallen. Neutronen unmittelbar nach dem Zerfall sind sehr schnell und haben deswegen beim Vorbeiflug wenig Zeit für Wechselwirkungen mit einem Kern. Prinzipiell können sie zwar auch Kerne spalten, technisch ist das aber schwierig darzustellen. Besser ist es, wenn die Neutronen möglichst langsam sind, damit sie möglichst lange in Kernnähe bleiben und die Chance möglichst groß ist, vom Kern absorbiert zu werden. Es ist also gar nicht das Ziel, möglichst energiereiche – also schnelle Neutronen – wie mit einer Kanone auf ein festes Ziel zu schießen, sondern man muss im Gegenteil dafür sorgen, dass die Neutronen abgebremst werden. Das erreicht man, indem man dafür sorgt, dass die Neutronen auf ihrem Weg mit anderen Atomkernen elastisch stoßen, die nicht von ihnen gespaltet werden können und die sie auch nicht absorbieren. Indem man also zwischen Neutronenursprung und Zielkern ein passendes Material einbringt, lässt sich die Geschwindigkeit der Neutronen so weit senken, dass sie gerade noch der thermischen Bewegung entspricht. Auf Schlau heißen sie deswegen nicht langsame, sondern thermische Neutronen. Das Stoßmaterial nennt man Moderator und den Vorgang des Abbremsens Moderation. Geeignete Moderatormaterialien haben eine kleine Atommasse, damit beim Stoß möglichst viel Energie ausgetauscht wird (an zu schweren Kernen würde das Neutron einfach reflektiert). Beispiele sind z.B. Graphit und Wasser.
Soweit die theoretischen Vorstellungen, die im Dezember 1942 schon bekannt und experimentell zumindest einigermaßen abgeklopft waren. Die Erwartung der Phyisker war, dass bedingt durch den natürlichen Zerfall von Urankernen bzw. durch eine geeignete Neutronenquelle initial eine erste Generation Neutronen zu Verfügung steht. Durch den Graphitmoderator des Reaktors sollten die Neutronen so weit abgebremst werden, dass sie von benachbarten Urankernen absorbiert werden könnten, die dadurch ebenfalls zur Spaltung angeregt würden und bei der Spaltung eine neue Neutronengeneration entlassen, die wiederum neue Kerne spaltet und so weiter. In einer genügend großen Masse Uranes und bei ausreichender Moderation sollte es möglich sein, den hypothetischen Zustand künstlich darzustellen. Damit aber nicht genug.
Genauso wichtig wie das Darstellen der Kettenreaktion per se ist ihre anschließende Kontrolle. Ein unbeeinflusster Reaktor, in dem eine unkontrolliert anschwellende Kettenreaktion abläuft, ist eine potentiell äußerst gefährliche Maschine und dem Laienpublikum unter dem Namen Atombombe bekannt. Man musste also dem Moderator, der die Kettenreaktion begünstigt einen Antagonisten zur Verfügung stellen, der sie wieder begrenzt. Dafür war CP-1 so konstruiert, dass Stäbe aus einem Neutronen absorbierenden Material (geeignet dafür sind z.B. Cadmium und Bor) eingebracht werden konnten. Für den Notfall war direkt über dem Kern ein Kontrollstab an einem Seil befestigt. Walter Zinn stand mit einer Axt bereit, um im Notfall das Zeil zu durchtrennen und die Kettenreaktion zu stoppen. Angeblich hat Fermi selbst für Zinn das humoristische Backronym Safety Cut Rope Axe Man geprägt (Die Realität ist wieder mal weniger romantisch. (To) Scram heißt auf deutsch so viel wie Stiften gehen und war schon vorher ein Begriff für die Schnellabschaltung von Turbomaschinen).
Zuletzt gehört zur Kontrolle eines Technischen Prozess auch eine Messeinrichtung, denn ohne präzise Messungen kann man keine Aussagen über dessen aktuellen Zustand treffen. Für die Kontrolle der Kettenreaktion ist die wichtigste Messgröße damals wie heute der Neutronenfluss, also die Anzahl der in der Spaltzone befindlichen Neutronen in Abhängigkeit der Zeit. Die Wissenschaftler mussten schon im Vorfeld abschätzen, wie groß der Messbereich würde sein müssen, damit alle Zustände sicher würden erfasst werden können. Das Messgerät musste auch ausreichend genau sein, die drei Zustände ansteigender, stationärer und sinkender Neutronenfluss sicher zu unterscheiden. Die Messeinrichtung zu bauen war Aufgabe von Leona Woods, der meines Wissens nach einzigen Frau im Team und einer der wenigen Frauen im Manhattan-Project, die aktiv an der Entwicklung mitarbeiteten.
In der Reaktorphysik ist eine der wichtigsten Größen die Kritikalität als ein Maß für die zeitliche Entwicklung des Neutronenflusses, ausgedrückt durch den Multiplikationsfaktor k. Durch das Ein- und Ausbringen von Absorbermaterial in die Spaltzone kann man k verändern. Wenn k < 1 ist der Reaktor unterkritisch: das heißt, dass nicht genug Neutronen bei der Kettenreaktion freiwerden bzw. zu viele Neutronen absorbiert werden, um diese zu erhalten. Die Kettenreaktion nimmt ab, die Leistung des Reaktors sinkt. Ist k = 1 ist der Reaktor kritisch: das ist der stationäre Zustand, in dem Leistung und Neutronenfluss konstant sind. Ist k > 1 ist der Reaktor überkritisch: Neutronenfluss und Leistung steigen, die Kettenreaktion schwillt an. Die Zustände k ungleich 1 müssen für An- und Abfahrvorgänge beherrscht werden. Um einen Eindruck davon zu geben, was viel oder wenig ist: Ohne jetzt genau auf die Physik einzugehen[1] bedeutet in einem idealen Reaktor ohne Neutronenverluste ein k > 1,0068 für Uran den Start einer fast unkontrollierbaren Kettenreaktion, für Plutonium liegt der Faktor sogar bei k > 1,0022. In der Wirklichkeit, wo immer Neutronen aus dem Reaktor entkommen, ohne an Kernspaltungsreaktionen beteiligt zu sein muss k immer noch Werte nicht größer als etwa 1,03 haben, damit die Kettenreaktion stabil läuft.
Zu Testen ob die vorhandenen Daten stimmen, ob die gemachten Experimente richtig interpretiert wurden, ob die Vorhersagen der Theorien sich bewahrheiten – das waren die Ziele, die man mit CP-1 verfolgte und er sollte die Erwartungen voll erfüllen. An jenem 02. Dezember 1942 gegen 14:00 Ortszeit entfernte George Weil zum Auftakt des erfolgreichen Experiments, nachdem ein erster Versuch am Vormittag abgebrochen werden musste, den ersten Absorberstab. Anderthalb Stunden später interpretierte Enrico Fermi aus den Messdaten, dass die Kettenreaktion in Gang sei. Eine halbe Stunde später, nachdem die Messgeräte einen unzulässig großen Neutronenfluss anzeigten, wurde das Experiment beendet. Geschichte war geschrieben worden: die erste von Menschen gemachte nukleare Kettenreaktion. Es war die Geburtsstunde der Kernenergie.
CP-1 sah primitiv aus, war aber durchdacht. Im Prinzip enthielt er schon alles, was für einen Kernreaktor nötig ist. Seine kruden Formen täuschen über die in vielen Experimente gewonnene Erfahrung hinweg, ohne die weder Geometrie der Anlage, noch Anordnung von Spaltstoff, Absorberstäben und Messgeräten, noch die praktischen Fertigkeiten im Umgang mit den Kontroll- und Sicherheitseinrichtungen möglich gewesen wären. Im Zuge der Jahre 1941/1942 wurden rund 30 kleinere Versuchsanlagen gebaut, mit denen man Schritt für Schritt dem großen Ziel näher rückte. An anderer Stelle (und witziger weise auch in Bezug auf Kernreaktoren) habe ich angedeutet, wie wichtig es ist, erst mit kleinen Anlagen Erfahrungen zu sammeln und peu à peu die Größe zu steigern. CP-1 ist dafür ein gutes Beispiel. So bahnbrechend er war, so wenig kam er aus dem Nichts und so sehr war er selbst Teil eines viel größeren Prozesses, nämlich der Entwicklung der Kernwaffen.
Auf einer abstrakten Ebene bestand CP-1 aus denselben Baugruppen, wie praktisch alle Anlagen, in denen irgendein Prozess abläuft: Ein Teil setzt den Prozess in Gang (Neutronenquelle), ein Teil erfasst Daten aus dem Prozess (Neutronendetektor), ein Teil beeinflusst den Prozess (Moderator und Absorberstäbe). Was das Experiment so besonders macht, ist seine Abhängigkeit von der Richtigkeit theoretischer Modelle. Die Wissenschaflter und Techniker mussten auf Basis ganz weniger experimenteller Daten eine Maschine bauen, die einen nie vorher willentlich herbeigeführten Effekt nicht nur darstellen, sondern auch beherrschen und wieder kontroliiert beenden konnte. Eine gute Theorie der Kernphysik, die verlässliche Aussagen über Prozesse ermöglicht, die potentiell kataklysmische Energien freisetzen können, wenn sie unkontrolliert ablaufen, war unabdingbare Voraussetzung dafür, dass CP-1 so gebaut und betrieben werden konnte.
Die Ereignisse während des Experiments vom 02. Dezember 1942 und danach sind legendär. Wigner öffnete eine Flasche Chianti, die er extra für diese Gelegenheit gekauft hatte und die versammelten Wissenschaftler tranken aus Pappbechern. Compton<a/a> informierte seinen Chef Conant per Telefon. Der Sage nach benutzten beide einen aus dem Stehgreif improvisierten Code:
Compton: “Der Italienische Seefahrer ist in der Neuen Welt angelandet.”
Conant: “Wie waren die Eingeborenen?”
Compton: “Sehr freundlich.”
[1] Ganz grob: Eine Kernspaltung setzt aus zwei Quellen Neutronen frei: prompte Neutronen entstehen sofort aus dem Spaltstoff, verzögerte Neutronen innerhalb von Sekunden bis Minuten aus den Spaltprodukten. Wegen der kurzen mittleren Wegstrecke der freien Neutronen im Spaltstoff und der daraus resultierenden kurzen Zeit zwischen einer Spaltung f1 und der durch die daraus entstandenen Neutronen ausgelösten Spaltung f2, liegt die Zeit für die Verdopplung der Leistung im Bereich von Millisekunden, wenn die prompten Neutronen allein für die Aufrechterhaltung der Kettenreaktion sorgen können. Eine technische Kontrolle der Kettenreaktion ist dann praktisch kaum mehr möglich. Man nennt den Reaktor dann prompt überkritisch. Manche Forschungsreaktoren nutzen diesen Zustand aus, in Leistungsreaktoren muss er unter allen Umständen vermieden werden.
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