Auch wenn mittlerweile viele Puzzlestücke gefunden sind, die zusammen ein schlüssiges Bild ergeben können, ist es noch zu früh, um en detail über Ursprung des verheerenden Brandes und die Gründe für seine rasche Ausbreitung zu sprechen. Die britische Regierung hat zwar einen öffentlichen Untersuchungsausschuss eingesetzt, dessen Zwischenbericht demnächst erwartet wird, aber abgesehen von diversen Anhörungen ist noch nichts Substantielles passiert. An dieser Stelle soll es auch gar nicht um die Gründe für und die Schuld an dem Feuer gehen. Was ich zur Diskussion stellen möchte, ist die Frage:

Wenn die Bewohner wirklich so besorgt wegen der Feuersicherheit waren, warum sind sie dann nicht weg gezogen?

oder ganz allgemein:

Wenn Menschen das Gefühl haben, mit einem unnötigen Risiko zu leben, warum tun sie dann nichts dagegen?

 

Vielleicht haben viele ja tatsächlich reagiert

Ohne die Demographie der Bewohner zu kennen ist es es nicht möglich, über diesen Punkt Aussagen zu treffen, aber auch wenn die Menge aller Bewohner zu jedem Zeitpunkt praktisch konstant ist, besteht sie doch aus Individuen, die aus den verschiedensten Gründen und zu den verschiedensten Zeiten Ein- und Ausziehen.

Es ist durchaus möglich, dass Bewohner im Zeitraum von ca. Mitte 2012 bis kurz vor dem Brand wegen der Feuergefährdung aus dem Grenfell Tower ausgezogen sind. Vermeidung kann prinzipiell eine sinnvolle Strategie sein, um mit Risiken umzugehen, aber sie kann auch fehl gehen, wenn man anfängt, sich gegen Nichtgefahren abzusichern. Die Unterscheidung zwischen tatsächlicher und nur als solche empfundene Gefahr ist aber notorisch schwierig und oft nur nach langer Zeit möglich. Bis zur Katastrophe war das tatsächliche Risiko des Grenfell Towers für einen Außenstehenden schwer abzuschätzen. Eingedenk der Tatsache, dass überall auf der Welt Zehntausende solcher Wohnblocks aus den 1960er und 1970er Jahren stehen, solche katastrophalen Brände aber vergleichsweise selten sind, ist es das genaugenommen immer noch.

 

Risiken sind schwierig einzuschätzen

Dazu verweise ich auf den zweiten Artikel meiner Serie zum Thema Risiko. Was für Autos gilt, hat auch in Bezug auf alles andere seine Berechtigung.

 

Menschen sind großartig im Rationalisieren

Menschen neigen in alltäglichen Situationen dazu, sich folgende Frage zu stellen:

Wie groß ist die Chance, dass mir ein schwerer Schaden wiederfährt, konkret z.B. ein Feuer ausbricht und wie viel Mühe macht mir die Absicherung dagegen, konkret der Umzug?

Umziehen heißt monatelang Stress: An-, Um- und Abmeldungen müssen geschrieben und verschickt, Ämter aufgesucht werden. Der Umzug will organisiert sein, der ganze Hausrat muss rechtzeitig verpackt werden…

Umziehen bedeutet tatsächlichen, konkreten, akuten, planbaren Aufwand.

Wie groß ist dagegen die tatsächliche Gefahr? Wie ist der generelle Zustand des Gebäudes im Vergleich zu anderen und wie viele Jahrzehnte ist alles schon gut gegangen? Wie viele Hochhausbrände hat es tatsächlich gegeben und wie viele Feuer können sich tatsächlich so stark entwickeln?

Feuer ist ein abstraktes, schwer einschätzbares, ungeplant eintretendes und unsicher abzuschätzendes Risiko. Noch dazu eines, das regelmäßig unterschätzt wird.

Menschen neigen auch dazu, sich für gefeit zu halten. Fragt man Menschen, für wie häufig sie Unfälle halten und vergleicht diese Zahlen mit der eigenen Einschätzung findet man regelmäßig, dass selbst, wenn die Risiken korrekt eingeschätzt werden, die Befragten einhellig sich selbst als Verursacher oder Opfer nahezu ausschließen. Fragt man sie nach dem Risiko, in einen Rechtsstreit verwickelt zu werden, unterschätzen sie dieses Risiko ebenfalls massiv – dabei passiert es so gut wie jedem im Laufe seines Lebens. Besorgte Mieter hatten schon im Juni 2012 einen Blog gestartet, um über Misstände im Haus zu berichten.

 

Alternativen brauchen Zeit

Fluchtartig die eigene Höhle zu verlassen ist in den meisten Fällen nicht zielführend. Generell schadet blinder Aktionismus oft mehr als er nützt. Schon aus diesem Grund werden die meisten Menschen, wenn sie vor einer Situation wie die Bewohner von des Grenfell Towers stehen, lange abwägen, welche der sich bietenden Alternativen sie konkret wählen wollen.

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Kommentare (7)

  1. #1 Michael Schöfer
    Mannheim
    18. April 2018

    “Wenn die Bewohner wirklich so besorgt wegen der Feuersicherheit waren, warum sind sie dann nicht weg gezogen?”

    Vielleicht, weil die horrenden Mietpreise im sündhaft teuren London jeglichen Gedanken an einen Umzug gleich im Keim erstickten. Ich glaube gelesen zu haben, dass viele ehemalige Bewohner des Grenfell-Towers immer noch keine neue – bezahlbare – Unterkunft gefunden haben.

  2. #2 Hobbes
    18. April 2018

    Etwas off topic:
    Heute wurde ein Teil des Berichtes vom Untersuchungsausschuss geleaked. Der besagt wohl, dass alle Leben hätten gerettet werden können wenn die ursprüngliche Fassade beibehalten worden wäre.

  3. #3 libertador
    18. April 2018

    “Heute wurde ein Teil des Berichtes vom Untersuchungsausschuss geleaked. Der besagt wohl, dass alle Leben hätten gerettet werden können wenn die ursprüngliche Fassade beibehalten worden wäre.”

    Interessant ist in solchen Fällen von verteilter Verantwortung und unsicherem Risiko, wie Entscheidungsträger danach bestraft werden. In diesem Fall ist es ja noch recht einfach, da die Kausalität zu den Todesfällen vom Brand zumindest klar ist. Gleichzeitig können solche Schäden aber auch Jahre später erst sichtbar werden und es ist schwer zu rekonstruieren, wie klar das Risiko vorher erkennbar war.

  4. #4 PippiLotta
    18. April 2018

    Wie man seit dem Vorfall in London mit einem solchen Risiko umgeht sieht oder sah man in Dortmund ganz gut, wo ein Hochhaus in einer Nacht- und Nebelaktion geräumt wurde: https://www.ruhrnachrichten.de/Staedte/Dortmund/Brandschutzprobleme-gravierender-als-bisher-angenommen-1256991.html

    Mehr als 700 Leute mussten von einen auf den anderen Tag wegen eklatanter Brandschutzmängel ihre Wohnungen verlassen. Ein Betreten ist bzw war nur mit einer durch die Feuerwehr gestellten Brandsicherheitswache möglich.

    Es sei mal dahingestellt wie hoch das Risiko eines Brandes in diesem Gebäude wirklich ist, die Gefährdung durch einen Brand wäre aufgrund der Baumängel natürlich massiv. Durch den Brand in London wird man hier aber auch viel genauer hingesehen haben als man es in den letzten Jahren getan hat.
    Der Betreiber hat vorsätzlich gehandelt.

  5. #5 Dr. Webbaer
    18. April 2018

    Brennbare Fassade mag allgemein nützlich, aber auch in concreto tödlich sein,
    MFG
    Dr, Webbaer

  6. #6 Hobbes
    18. April 2018

    Eine weitere interessante Sache ist die, dass das Vereinigte Königreich immer besonders stolz auf die Brandschutzbestimmungen im Land war und diese für die Besten der gesamten Welt erachtet hat. Das ganze geht wahrscheinlich zurück auf den Einfluss der Tabaklobby die versucht hat von Feuertoten durch Zigaretten abzulenken indem die entflammbarkeit von Einrichtungsgegenständen extrem erhöht wurde. Die Möbelhersteller haben darin dann sehr schnell den protektionistischen Nutzen erkannt und die Gesetze entsprechend gestützt. Aktuell gibt es aber bedenken, dass die Feuerschutzzusatzstoffe zu extremen Rauchentwicklungen führen die mehr Leben kosten als retten.
    Was man bei Risikobewertung auch nicht außer Acht lassen sollte ist, dass man immer denkt mich trifft es ja schon nicht. Wenn man mal wirklich ehrlich seine eigene Jugend beleuchtet findet man viele Fälle in denen man mit etwas Pech ernsthaften Schaden hätte erleiden können ohne das es einen wirklich gestört hätte.

  7. #7 Kassandra
    20. April 2018

    Die Erklärung ist vermutlich noch viel einfacher: Wer in einer Sozialwohnung lebt, der wird in London ebenso wie in München kaum viele Möglichkeiten zum Wechseln der Wohnung haben. Man muß ja schon froh sein, überhaupt eine zu bekommen.

    “Waiting times for social housing in the Square Mile are extremely long. In certain situations, you may be expected to wait more than 10 years.”

    https://www.cityoflondon.gov.uk/services/housing/looking-for-a-home/Pages/default.aspx