6. Öffentliche Plätze wie Bahnhöfe, Parks und Plätze werden regelmäßig großflächig desinfiziert. In Restaurants, Geschäften und öffentlichen Gebäuden desinfiziert das Personal ebenso regelmäßig Oberflächen, von denen oft Schmierinfektionen ausgehen, wie Handläufe, Türklinken, Knöpfe im Aufzug, etc.
7. Taiwan nutzt die Möglichkeiten moderner Technologie und Big Data voll aus: Anhand der Einträge in den Datenbanken des Gesundheitswesens und der Zoll- bzw. Grenzbehörden ist es möglich, über das Bewegungsprofil der Menschen potentiell Infizierte zu erkennen und rechtzeitig zu kontaktieren. Bei Lichte besehen sollte man davon erst mal entsetzt sein, denn dass der Staat so genau über die Bewegungen der Bürger informiert ist, birgt in sich große Gefahren. In der jetzigen Situation ist es allerdings eine immense Hilfe.
8. Die Bevölkerung trägt die Maßnahmen mit. In Asien ist es sowieso sehr üblich mit Maske auf die Straße zu gehen (teilweise wegen der Luftverschmutzung, teilweise aus Höflichkeit gegenüber den anderen, die man nicht anstecken will und teilweise aus Vorsicht gegenüber eigener Ansteckung), sich die Hände zu desinfizieren, etc. Nachdem ich gelernt habe, dass in Taiwan üblicherweise ffp2-Masken getragen werden, die tatsächlich dafür geeignet sind, über einen längeren Zeitraum ihren Schutz aufrecht halten ohne gesundheitliche Probleme beim Träger zu erzeugen, sehe ich diesen Punkt in der Tat etwas differenzierter als letzte Woche.
Mit diesen Maßnahmen hat Taiwan das Coronavirus anscheinend im Griff. Und das ohne öffentliche Gebäude zu schließen, ohne massenhaft Veranstaltungen abzusagen, trotz einer sehr hohen Bevölkerungsdichte (eine der zehn Höchsten unter der Flächenstaaten der Welt). Die massivste Maßnahme war die Verlängerung der Winterferien um zwei Wochen und sogar eine Präsidentschaftswahl wurde durchgeführt. Und weil dieses Beispiel so eindrucksvoll ist und weil trotz der de-facto Stillegung des kulturellen, sportlichen und öffentlichen Lebens in Mitteleuropa die Verbreitung des Virus zurzeit nicht wirklich aufgehalten werden kann, bin ich äußerst skeptisch gegenüber der Wirksamkeit von Maßnahmen wie der Absage auch kleiner Veranstaltungen mit bestenfalls ein paar Hundert Teilnehmern, der Schließung von Schulen, Universitäten und ähnlichem. Es ist dieser krasse Unterschied zwischen dem Beispiel Taiwans und dem Rest der Welt weswegen ich den Nutzen so mancher Maßnahme, die offiziell propagiert wird, für zweifelhaft und die Maßnahme deshalb für überzogen halte. Ganz davon abgesehen, dass die allergrößte weltweite Massenveranstaltung, die sich Pendelverkehr nennt, nicht abgesagt oder nennenswert eingeschränkt wird. In eine S-Bahn-Traktion Baureihe 425/435 passen mühelos 300 Menschen, ohne dass es besonders kuschelig wird. Im Berufsverkehr finden auch schon mal 500 Platz. Nicht selten fahren zwei oder drei Traktionen im Verbund. An den Knotenpunkten, wie Mannheim, entladen sich dann auf einen Schlag 1.000 Menschen und gehen ihres Weges. Auf der anderen Seite gehen wir in Europa mit Verdachtsfällen vielleicht zu lax um und müssten viel tiefer ins Leben individueller Menschen eingreifen, um etwas zu erreichen. Meines Wissens nach werden bei einem Verdachtsfall in Deutschland nicht die nächsten Kontakte und deren Kontakte und vielleicht gar noch deren Kontakte isoliert. Dabei ist das eine der wirksamsten Maßnahmen zur Unterbrechung der Infektionskette, wie das Beispiel Taiwans zeigt.
Ich habe aber noch aus einem anderen Grund Probleme, wenn ich unser Vorgehen mit dem von Taiwan vergleiche und dieses Problem ist subtilerer Natur. In meiner Serie zum Risiko habe ich auch einen Beitrag dazu verfasst, dass Schutzsysteme zur Minimierung eines Risikos A Nebenwirkungen haben, die zu einer Erhöhung des Risikos B führen können. Im Extremfall kann es vorkommen, dass durch die Schutzmaßnahme mehr Schaden als Nutzen angerichtet wird. In genau dieser Situation stecken wir womöglich gerade. Das Coronavirus hat bereits eine weltweite Wirtschaftskrise ausgelöst, deren Schaden noch nicht absehbar ist. Schaden, der sich zunächst in Geldeinheiten, aber früher oder später in Form menschlichen Leides materialisieren wird. Wir wissen aus früheren Krisen, dass die Selbstmordrate in Wirtschaftskrisen deutlich ansteigt. Wir wissen auch, dass die Höhe des Einkommens einer der wichtigsten Marker für die Gesundheit der Bevölkerung ist und Armut, ganz plakativ gesagt, krank macht. Josef Kuhn schreibt nebenan bei Gesundheitscheck immer wieder über diesen Zusammenhang. Die sehr frühen, radikalen Maßnahmen der chinesischen Behörden haben dazu geführt, dass die Industrieproduktion in den betroffenen Regionen seit sechs Wochen so gut wie versiegt ist (Es geht zwar wieder zaghaft bergauf, aber mit ungewissem Ausgang). Das wird Auswirkungen weltweit haben: Firmen werden schließen, Menschen ihre Jobs verlieren. Gerade um Wuhan gibt es viele Chemie- und Pharmaunternehmen, die wichtige Rohstoffe und Endprodukte für Arzneimittel herstellen, auf die ein Großteil der Welt angewiesen ist. Man kann lange darüber lamentiern, warum dem so ist und was man hätte tun können, um Engpässe dieser Art zu vermeiden, aber das ändert wenig an der Situation, wie sie ist. Noch merken wir davon nicht viel, da jede Fabrik über eigene Lager verfügt und noch immer einiges an Produkten auf dem Transportweg ist, aber es wird nicht mehr lange dauern, fürchte ich, dann werden nicht nur Desinfektionsmittel und Masken, sondern Grundmedikamente und Medizinprodukte bei uns knapp. Von lebenswichtigen Spezialmedikamenten gar nicht zu reden. Die WHO nennt zwar auch die chinesischen Quarantänemaßnahmen als Gründe für die erfolgreiche Eindämmung in China, aber eingedenk der taiwanesischen Praxis, die ohne solch massive Eingriffe blieb und des noch nicht absehbaren Schadens durch Unterbrechung der Arzneimittelproduktion habe ich meine Zweifel sowohl an Wirksamkeit als auch Verhältnismäßigkeit. Ich befürchte, dass in einem Fall bitterer Ironie gerade die Maßnahmen, die der Eindämmung der Krise dienen sollten, ohne wirklich nennenswert Anteil am Erfolg zu haben, die weltweite Fähigkeit mit dem Coronavirus und anderen gefährlichen Erkrankungen umzugehen massiv beschneiden werden.
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