Dass die IT-Infrastruktur deutscher Großunternehmen, vorsichtig ausgedrückt, nicht so leistungsfähig ist wie eigentlich notwendig, ist ein offenes Geheimnis. In dieser Krise zeigt sich das überdeutlich. Ich bin z.B. seit gestern im angeordneten Homeoffice, kann online allerdings nur eingeschränkt auf die Firmenserver zugreifen, weil die nötige Bandbreite fehlt. Es macht eben doch einen Unterschied, ob 500 oder 10.000 Menschen von außerhalb auf das Intranet zugreifen wollen. Und wir sind nur ein Beispiel – frage ich unsere Kunden, Lieferanten und Geschäftspartner, höre ich unisono dieselbe Botschaft in beinah denselben Worten. Wir Sachbearbeiter jammern und klagen zwar überall schon seit Jahren über die langsamen Netze und schlechten Verbindungen, aber mit verweis auf die schwierige wirtschaftliche Lage und die hohen Kosten lehnen die Unternehmen durch die Bank den Ausbau der internen IT-Infrastruktur ab. Die Auswirkungen spüren wir jetzt, in der Krise. Unsere IT hat nichts auf den Rippen und unter der Belastung der Krise bricht sie zusammen. Aber das ist jammern auf höchstem Niveau gegenüber den Berufen die ihre Arbeitsstätte nicht so problemlos ändern können. Handwerker, Kleingewerbetreibende, der Rettungsdienst, Pflegedienste, die Post, Betreiber von Lebensmittelläden und viele andere können nicht einfach so den Laden dicht machen und sich zu Hause an den Schreibtisch setzen. Für das gros der Messebauer und Veranstaltungsbetriebe bedeutet die Krise vermutlich das Aus.
Im Gesundheitssystem sieht es im Moment ganz besonders mau aus. Dass es einen Pflegenotstand und massiven Personalmangel gibt, pfeifen seit vielen Jahren die Spatzen von den Dächern. Dass die Krankenhäuser gewaltige Probleme mit Krankenhauskeimen haben weiss man auch nicht erst seit gestern. Dass zwischen beidem ein gewisser Zusammenhang besteht dürfte jedem, der die Arbeitswirklichkeit der Pflegenden kennt, auch nicht ganz unbekannt sein. In vielen Häusern ist die Personaldecke so dünn, dass die Pflegenden nur dann alle Patienten ihrer Station versorgen können, wenn sie Abstriche bei der Versorgung des individuellen Patienten machen. Gut ausgebildete Fachleute für Pflege müssen von den Leitlinien ihrer Ausbildung, der guten Berufspraxis abweichen, weil sie sonst ihr Pensum nicht schaffen. Von der psychischen Belastung, zu wissen, dass man keine Gegenstände, sondern menschliche Wesen pflegt und das nicht optimal tun kann, weil dafür keine Zeit ist, gar nicht zu reden. Schon unter ganz normalen Bedingungen infizieren sich schätzungsweise 500.000 Menschen pro Jahr allein in Deutschland mit einem Krankenhauskeim und etwa 15.000 sterben an den Folgen. Viele dieser Infektionen wären vermeidbar, wenn die Hygieneregeln besser eingehalten würden. Das wiederrum würde aber voraussetzen, dass die Mitarbeiter genügend Zeit dafür haben und daran hapert es oft. In den letzten Jahren gab es insbesondere bei der Bekämpfung von MRSA beachtliche Erfolge, aber die stehen jetzt wieder ein Stück weit zur Disposition: Die vom Gesundheitsministerium erlassenen Vorgaben, wie die Aufhebung der Mindestbesetzung von Stationen und Mehrfachbenutzung bestimmter Einmalartikel wird garantiert nichts tun, um diese Situation zu verbessern und schon jetzt besteht die Gefahr, dass es durch die Krisenmaßnahmen zu einer schwer abschätzbaren Zahl zusätzlicher Infektionen kommen wird, erst recht wenn die Krankenhäuser wirklich in naher Zukunft viele schwer an COVID-19 erkrankte Menschen aufnehmen müssen, deren Immunsystem sowieso nicht mehr viel Abwehrkraft hat.
Die Bedingungen und Vorgaben ändern sich so rasend schnell, dass gar keine Zeit bleibt, das Für- und Wieder jedes Einzelfalls reiflich abzuwägen. Welche Operationen sind wichtig genug nicht verschoben zu werden, obwohl sie nicht lebenswichtig sind? Ist die geplante Knie-TEP einer 40-jährigen wichtig genug? Sie hat vermutlich noch 20 gute Jahre vor sich, eher mehr. An einem kaputten Knie stirbt sie sicher nicht, aber wenn’s nicht gemacht wird, wird sie irgendwann humpeln oder schlimmeres. Dito jemand mit einer komplizierten Handgelenksfraktur. Oder anstehender Hüft-OP. Oder Hundert anderen akuten, nicht lebensbedrohlichen, Verletzung. Das ist dann nicht mal eine klassisch-utilitaristische Frage von entweder oder, sondern von ob überhaupt, weil vielleicht. Die Politik hat die Vorgabe gemacht, planbare Operationen zu verschieben, aber die konkrete Entscheidung bleibt bei den armen Schweinen an der Front hängen, die schon im Normalfall zu viel um die Ohren haben und zurzeit in Arbeit und Problemen regelrecht ersaufen. Über ehemaligen Kollegen meiner Frau und Bekannte aus der Pflege und dem Rettungsdienst, also quasi durch den Buschfunk erfahre ich, dass in verschiedenen Häusern äußerst unterschiedlich auf die Anweisung reagiert wird: Zwischen alles stoppen und weiter wie bisher ist alles drin. Für viele Menschen wird die Krise damit zum Glücksspiel über Wohl und Weh ihrer Gesundheit, auch wenn sie sich um eine COVID-19-Erkrankung an sich kaum Sorgen machen müssen.
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