Das Coronavirus hat die Welt spürbar verändert. Regierungen praktisch aller Länder haben auf die Gefahr reagiert und wenn ich persönlich bei mancher Maßnahme und mancher Zahl auf der sie beruht Bauchschmerzen habe, bleibt die Beobachtung dass überall reagiert wird. Und, dass für der Spielraum fürs Reagieren denkbar knapp ist.
Die Welt ist auf Kante genäht. Das hat die Pandemie mehr als alles andere gezeigt. Sowohl private Unternehmen oder öffentliche Einrichtungen sind schon unter Normalbedingungen so verschlankt, dass eine Störung des Regelbetriebs nicht einfach aufgefangen werden kann. Wir haben keine Reserven mehr. Nirgendwo. Das zeigt sich in der Krise besonders. Wir begegnen dem Coronavirus nicht durch Aktivierung schlummernder Reserven, die wir für den Notfall vorhalten, sondern durch Überreizung des vorhandenen Materials und Überbelastung der Menschen. Leute, die bei einem Achtstundentag sowieso schon neun arbeiten, müssen jetzt zehn Stunden ran, um die Krise zu meistern. Machen wir uns nichts vor: Da werden Leute verbrannt. Burnout ist in unserer Gesellschaft sowieso ein immer größeres Problem und eine Krisensituation wird das nicht besser machen.
Nirgendwo zeigt sich das so deutlich wie im Gesundheitssystem, aber auch die Industrie kann ein Lied davon singen. Unsere Produktionswege sind so schlank, dass eine Störung in einem Glied der Produktionskette oder im internationalen Handel gravierende Ausmaße annehmen kann. Wie schon mehrmals erwähnt haben sich gerade um Wuhan viele Pharma- und Chemiefirmen angesiedelt, deren Produktionsausfall die Welt zu spüren beginnt. Ich merke das zurzeit am eigenen Leib, denn mein Schilddrüsenmedikament ist nicht lieferbar. Die weltweite Arzneimittelproduktion ist so konsolidiert, dass eine Handvoll Hersteller die Vorprodukte vieler Medikamente für die ganze Welt herstellen. Fällt einer davon aus, kann kein anderer ihn schnell ersetzen. Genau das ist Anfang 2020 in China passiert. Andere Industrien laufen in dieselbe Richtung: Viele Autobauer auf der Welt haben ihre Produktion nicht nur wegen des Coronavirus gedrosselt oder ausgesetzt, sondern weil ihnen Bauteile fehlen. Die kommen auch fast nur noch aus riesen Anlagen. Fällt eine davon aus, sind die Auswirkungen direkt global. In der chemischen Industrie bauen wir auch immer mehr Worldscale-Anlagen, die die ganze Welt versorgen können, wenn sie laufen. Die Situation, dass durch deren Leistungsfähigkeit kleinere Hersteller aus dem Markt gedrängt wurden und es dann schlagartig zu einem Versorgungsengpass kam, wenn die große Anlage ausfällt, gab es zwar meines Wissens so bei uns noch nicht, aber wenn die Entwicklungs weiter geht wie bisher, wird es früher oder später so weit kommen. An der Chemieindustrie hängt unmittelbar auch die Pharamabranche, sowie die meisten Medizinprodukthersteller, die auf Vorprodukte für Desinfektionsmittel und maßgeschneiderte Kunststoffe für FFPx-Masken, Endotrachealtuben, Venenverweilkanülen, etc. angewiesen sind.
Die Chemieindustrie hängt selbst direkt von der Automobilindustrie ab. In jedem Auto sind jede Menge Funktionsmaterialien verbaut – Kunststoffe, Fasern, Lacke – und wenn PSA ankündigt, 14 Opel-Werke zu schließen und auch VW die Produktion herunterfährt, dann wird uns das ganz sicher auch treffen.
Viele kleinere Unternehmen werden von den Großen so gedrückt, dass sie praktisch nur mit vollen Auftragsbüchern überleben können und oft selbst dann nur mehr schlecht als recht. Wenn einem kleinen Ingenieurbüro für irgendeine Spezialanwendung oder einem Handwerksbetrieb mit fünf Mitarbeitern die Aufträge wegbrechen, dann wird das ganz schnell Existenzberdrohend. Die haben in der Regel keine großen Rücklagen von denen sie zehren können. Ich sitze in der Hinsicht warm und trocken, ich arbeite bei einem Konzern. Wir sind groß, wir können die Krise in gewisser Weise abwettern. Diese Fähigkeit fehlt kleineren Betrieben. Der Großteil der Wirtschaft ist mittlerweile so stark auf den reibungslosen Regelbetrieb, der nur kleine Abweichungen duldet, ausgerichtet, dass die Schäden, die durch Krisen angerichtet werden größer sind als sie sein müssten, hätte man in guten Zeiten nicht alles getan, sich noch weiter zu verschlanken.
Dass die IT-Infrastruktur deutscher Großunternehmen, vorsichtig ausgedrückt, nicht so leistungsfähig ist wie eigentlich notwendig, ist ein offenes Geheimnis. In dieser Krise zeigt sich das überdeutlich. Ich bin z.B. seit gestern im angeordneten Homeoffice, kann online allerdings nur eingeschränkt auf die Firmenserver zugreifen, weil die nötige Bandbreite fehlt. Es macht eben doch einen Unterschied, ob 500 oder 10.000 Menschen von außerhalb auf das Intranet zugreifen wollen. Und wir sind nur ein Beispiel – frage ich unsere Kunden, Lieferanten und Geschäftspartner, höre ich unisono dieselbe Botschaft in beinah denselben Worten. Wir Sachbearbeiter jammern und klagen zwar überall schon seit Jahren über die langsamen Netze und schlechten Verbindungen, aber mit verweis auf die schwierige wirtschaftliche Lage und die hohen Kosten lehnen die Unternehmen durch die Bank den Ausbau der internen IT-Infrastruktur ab. Die Auswirkungen spüren wir jetzt, in der Krise. Unsere IT hat nichts auf den Rippen und unter der Belastung der Krise bricht sie zusammen. Aber das ist jammern auf höchstem Niveau gegenüber den Berufen die ihre Arbeitsstätte nicht so problemlos ändern können. Handwerker, Kleingewerbetreibende, der Rettungsdienst, Pflegedienste, die Post, Betreiber von Lebensmittelläden und viele andere können nicht einfach so den Laden dicht machen und sich zu Hause an den Schreibtisch setzen. Für das gros der Messebauer und Veranstaltungsbetriebe bedeutet die Krise vermutlich das Aus.
Im Gesundheitssystem sieht es im Moment ganz besonders mau aus. Dass es einen Pflegenotstand und massiven Personalmangel gibt, pfeifen seit vielen Jahren die Spatzen von den Dächern. Dass die Krankenhäuser gewaltige Probleme mit Krankenhauskeimen haben weiss man auch nicht erst seit gestern. Dass zwischen beidem ein gewisser Zusammenhang besteht dürfte jedem, der die Arbeitswirklichkeit der Pflegenden kennt, auch nicht ganz unbekannt sein. In vielen Häusern ist die Personaldecke so dünn, dass die Pflegenden nur dann alle Patienten ihrer Station versorgen können, wenn sie Abstriche bei der Versorgung des individuellen Patienten machen. Gut ausgebildete Fachleute für Pflege müssen von den Leitlinien ihrer Ausbildung, der guten Berufspraxis abweichen, weil sie sonst ihr Pensum nicht schaffen. Von der psychischen Belastung, zu wissen, dass man keine Gegenstände, sondern menschliche Wesen pflegt und das nicht optimal tun kann, weil dafür keine Zeit ist, gar nicht zu reden. Schon unter ganz normalen Bedingungen infizieren sich schätzungsweise 500.000 Menschen pro Jahr allein in Deutschland mit einem Krankenhauskeim und etwa 15.000 sterben an den Folgen. Viele dieser Infektionen wären vermeidbar, wenn die Hygieneregeln besser eingehalten würden. Das wiederrum würde aber voraussetzen, dass die Mitarbeiter genügend Zeit dafür haben und daran hapert es oft. In den letzten Jahren gab es insbesondere bei der Bekämpfung von MRSA beachtliche Erfolge, aber die stehen jetzt wieder ein Stück weit zur Disposition: Die vom Gesundheitsministerium erlassenen Vorgaben, wie die Aufhebung der Mindestbesetzung von Stationen und Mehrfachbenutzung bestimmter Einmalartikel wird garantiert nichts tun, um diese Situation zu verbessern und schon jetzt besteht die Gefahr, dass es durch die Krisenmaßnahmen zu einer schwer abschätzbaren Zahl zusätzlicher Infektionen kommen wird, erst recht wenn die Krankenhäuser wirklich in naher Zukunft viele schwer an COVID-19 erkrankte Menschen aufnehmen müssen, deren Immunsystem sowieso nicht mehr viel Abwehrkraft hat.
Die Bedingungen und Vorgaben ändern sich so rasend schnell, dass gar keine Zeit bleibt, das Für- und Wieder jedes Einzelfalls reiflich abzuwägen. Welche Operationen sind wichtig genug nicht verschoben zu werden, obwohl sie nicht lebenswichtig sind? Ist die geplante Knie-TEP einer 40-jährigen wichtig genug? Sie hat vermutlich noch 20 gute Jahre vor sich, eher mehr. An einem kaputten Knie stirbt sie sicher nicht, aber wenn’s nicht gemacht wird, wird sie irgendwann humpeln oder schlimmeres. Dito jemand mit einer komplizierten Handgelenksfraktur. Oder anstehender Hüft-OP. Oder Hundert anderen akuten, nicht lebensbedrohlichen, Verletzung. Das ist dann nicht mal eine klassisch-utilitaristische Frage von entweder oder, sondern von ob überhaupt, weil vielleicht. Die Politik hat die Vorgabe gemacht, planbare Operationen zu verschieben, aber die konkrete Entscheidung bleibt bei den armen Schweinen an der Front hängen, die schon im Normalfall zu viel um die Ohren haben und zurzeit in Arbeit und Problemen regelrecht ersaufen. Über ehemaligen Kollegen meiner Frau und Bekannte aus der Pflege und dem Rettungsdienst, also quasi durch den Buschfunk erfahre ich, dass in verschiedenen Häusern äußerst unterschiedlich auf die Anweisung reagiert wird: Zwischen alles stoppen und weiter wie bisher ist alles drin. Für viele Menschen wird die Krise damit zum Glücksspiel über Wohl und Weh ihrer Gesundheit, auch wenn sie sich um eine COVID-19-Erkrankung an sich kaum Sorgen machen müssen.
Gleiches gilt für die Gesundheitsämter, die Polizei, die Ordnungsämter, an denen die undankbare Aufgabe hängen bleibt, Kontrollen von Menschen und Ermittlung von Infektionsketten durchzuführen. Da wurde in den letzten Jahren auch kein Mensch zu viel neu eingestellt.
Was ist mit der Blutversorgung? Ich versuche grade fieberhaft die nächste, für Ende März geplante Blutspende bei uns zu organisieren. Ich habe die Kreisverwaltung und die Gemeinde angeschrieben, weil wir eine Sondergenehmigung zur Nutzung der Örtlichkeit brauchen. Wird haben unsere rechtzeitig bekommen, aber erst auf Nachfrage. Wie sieht das bei anderen aus? Jeden Tag werden allein in Rheinland-Pfalz rund 900 Einheiten Vollblut gebraucht. Die Krankenhäuser brauchen sie zur Versorgung von Unfallopfern, für Operationen und zur Medikation von Menschen mit Blutkrankheiten. Deren Probleme verschwinden leider nicht. Deswegen finden die Blutspendetermine auch nach wie vor statt, sofern es einen Ort dafür gibt. Gerade in dieser Krise sind die besonders wichtig. Sind den Verantwortlichen diese und Hundert andere kleine Verwerfungen mit am Ende riesigen Auswirkungen wirklich bewusst, die ihre Entscheidungen verursachen? Bin ich eine Ausnahme, weil ich Stadt und Kreis hinterherrennen muss oder läuft das andernorts genauso unkoordiniert?
Diese Spannung im täglichen Leben pflanzt sich auch in unsere Wortwahl fort. Viele Geschäfte, die jetzt geschlossen oder eingeschränkt sind, schreiben nicht “aufgrund der COVID-19-Pandemie” oder “Wegen der Gefahr durch das SARS-CoV2”, sondern nutzen viel harmloser klingende Floskeln wie “aus aktuellem Anlass” oder “aufgrund der aktuellen Situation”. Auch im täglichen Sprachgebrauch finde ich die Formulierung von der aktuellen Situation immer häufiger und seit ich mir dessen bewusst bin, fällt mir auf wie oft ich sie selber benutze. Vielleicht will ich tatsächlich damit meine geistige Gesundheit bewahren und mich selbst schützen, indem ich das Wort Krise nicht allzu oft in den Mund nehme. Ich klammere mich an jedes Stück Normalität in einer Welt, die unter immer größer werdendem Druck steht.
Um ganz ehrlich zu sein erzeugt die Dynamik der Entscheidungen ein mulmiges Gefühl in mir. Es sind weniger die Ereignisse an sich, sondern mit welchen Maßnahmen Politiker und Menschen darauf reagieren. Ich befürchte, dass die Corona-Krise eine Eigendynamik entwickelt, in der allein der Verweis auf die Krise zur Rechtfertigung aller Arten von Maßnahmen dient, allein weil sie geignet sein könnten, egal welche Nebenwirkungen sie mit sich bringen. Nach der kürzlich verkündeten Schließung vieler Lokale, Läden und Vereine und der teils gravierenden Einschränkungen der Versammlungsfreiheit in anderen Europäischen Ländern rückt auch eine generelle Ausgangssperre in den Bereich des Möglichen. Zurzeit ist das nicht im Gespräch, aber was wird nächste Woche sein? Und wie dann weiter verfahren würde weiss niemand. Ich halte es für durchaus möglich, dass der Landrat den Katastrophenfall ausruft, meine Dienstverpflichtung beginnt und wir zusammen mit den anderen Hilfsorganisatoren, den Feuerwehren und dem THW die Versorgung der Menschen sicherstellen müssen. Ich mache mir dabei weniger Sorgen um eine coup d’état zur Ausschaltung der Bürgerrechte als um einen immer weiter ausufernden Aktionismus der im Sinne des alten Witzes vom Sparen jeden Pfennigs, koste es was es wolle, mehr schadet als nutzt. Wir sind dabei unsere Gesellschaft de facto stillzulegen und ein Ende ist nicht absehbar. Wenn wir immer schärfere und immer radikalere Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus umsetzen laufen wir Gefahr, irgendwann die Grundlagen unseres Lebens anzugreifen. Augenblicklich sind vor allem Industriebetriebe von Schließungen und Kurzarbeit betroffen und man kann darüber streiten, ob z.B. die Automobilindustrie wirklich lebensnotwendig ist, aber früher oder später wird die konkrete Umsetzung der Vorgaben der Politik auch dazu führen, dass die Lebensmittel prduzierende und verarbeitende Industrie, die Pharma- und Chemieindustrie (mein Arbeitgeber hat schon Maßnahmen, immer noch von recht milder Art, umgesetzt, die unsere Handlungsfähigkeit stark einschränken) und viele andere, auf die wir als Gesellschaft nicht wegen der Arbeitsplätze, sondern in der Tat wegen der Produkte nicht verzichten können, ohne dass das, so unmenschlich das klingen mag, Menschenleben kostet, die Entwicklung spüren. Noch gibt es von der Politik die klare Anweisung, Lebensmittel- und andere Läden offen zu halten. Auch auf der Erzeugerseite sieht alles gut aus: Es werden genügend Lebensmittel und Bedarfsgüter produziert und weder Groß- noch Einzelhandel klagt über Versorgungsengpässe. Es wird einfach nur sehr viel mehr gekauft als sonst. Dass das so bleibt wäre wünschenswert und um einen Mangel an Lebensmitteln an sich mache ich mir auch keine Sorgen, aber ob der kaum fassbaren Dynamik der Krise keimt in mir die Sorge, dass wir früher oder später durch unsere eigenen Abwehrmaßnahmen Verteilungsprobleme bekommen könnten.
De facto wird unsere Gesellschaft zurzeit vom Utilitarismus bestimmt. Wir stehen vor der Wahl, gar nichts zu tun oder zu handeln. In beiden Fällen sterben Menschen. Wir als Gesellschaft haben uns dafür entschieden, lieber zu handeln als das Virus sich ausbreiten zu lassen. Das ist sicher auch vernünftig. Wirft zwar die Frage auf, warum wir nicht bei anderen ähnlich gravierenden Problemen so entschlossen sind, aber immerhin. Ich habe damit auch kein grundsätzliches Problem – das Risiko falsch zu handeln dem Risiko durch Unterlassen Schaden anzurichten vorzuziehen entspricht auch meinem Denken. Ich denke aber auch, dass alles Handeln Abwägungssache sein sollte und ich mache mir Sorgen, dass die Reaktion auf die Pandemie eine Eigendynamik entwickelt, die die Tat an sich und nicht mehr die Tat unter Abwägung der Vor- und Nachteile in den Mittelpunkt stellt. Unsere Reaktion auf die Krise wird ebenfalls Menschenleben kosten und Schaden anrichten. Ich bin zurzeit nicht überzeugt davon, dass dieser Punkt ausreichend gewürdigt wird.
Allerdings sind nicht alle Nachrichten schlecht, denn was uns die Corona-Krise auch lehrt ist, dass die Welt zwar auf Kante genäht sein mag, aber der Stoff aus dem sie besteht wesentlich elastischer als in früheren Zeiten ist. Trotz der großen Einschränkungen, trotz der im vereinigten Deutschland nie da gewesenen Versammlungsverbote, der Hamsterkäufe, der häuslichen Quarantänen geht das Leben irgendwie weiter. Die Leute machen sich mal mehr mal weniger Sorgen, aber bleiben im Grunde ruhig. Für mein Gefühl ist trotz der größeren räumlichen Distanz der soziale Zusammenhalt enger geworden. Vielleicht ist es das, was man damit meint, wenn man sagt, dass Krise auch Chance heißt?
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