Ich selbst bin kein religiöser Mensch. Ich bin nicht gläubig, ich bin kein eingeschworener Anhänger irgendeiner besonderen weltlichen Philosophie und ein besonderes Bedürfnis nach Spiritualität habe ich auch nicht. Tempel, gleichviel welcher Gottheit man sie weiht, werden nicht für mich gebaut.
Aufgewachsen bin ich aber in einem sehr religiösen Umfeld. Meine Kindheit war vom Christentum als der Gemeinschaft der Gläubigen, die zusammen beten, fasten und feiern, sich gegenseitig unterstützen und einander helfen geprägt. Noch heute sind fast alle in meiner Familie in irgendeiner Form kirchlich engagiert. Religion habe ich persönlich als etwas sehr Positives erlebt, deswegen lehne ich sie nicht rundherum ab.
Je älter ich wurde, desto mehr kam ich mit Ideen atheistischer bzw. agnostizistischer Autoren in Kontakt, desto mehr Gräueltaten und Verbrechen – auch aus allerjüngster Zeit – wurden mir gewahr, desto deutlicher traten die Widersprüche in den Biographien so guter Christen wie Franz-Josef Strauss zutage, der unter anderem die Colonia Dignidad ausdrücklich unterstützte oder Menschen aus meinem Bekannten- und Verwandtenkreis, die so ganz unchristliche Dinge taten. Auch diverse Missbrauchsskandale, die lange vertuscht wurden und auch heute noch nicht richtig aufgearbeitet werden, werfen ein dunkles Licht auf die christlichen Kirchen in Deutschland. Auf internationaler Ebene mischten sich dazu die einflussreichen orthodoxen Juden in Israel mit ihrem Pochen auf einem politischen Judentum im Staate Israel, vor allem ausgedrückt durch die Siedlungspolitik und dem gewaltbereiten Islamismus, der seit rund 20 Jahren eine feste Konstante internationaler Politik ist und von diversen unserer guten Freunde im mittleren Osten mehr oder minder offen unterstützt wird. Religion rundheraus befürworten kann ich deswegen auch nicht.
Ich denke, wie man auch immer zu der Frage steht, ist zumindest eindeutig klar, dass Religiosität und Spiritualität im Leben sehr vieler Menschen eine wichtige, oft sogar eine essentielle Rolle spielen. Und diese Menschen werden durch die Covid-19-Pandemie in besonderer Weise auf die Probe gestellt. Den Gottesdienst nicht besuchen, in der Gemeinschaft der Gläubigen nicht gemeinsam beten und das Geheimnis des Glaubens feiern zu können – egal, ob der Gott nun so, Allah, JHWH oder ganz anders heißt – bedeutet auch in Deutschland für viele einen deutlichen Einschnitt in ihr Leben, der wesentlich schmerzhafter empfunden wird, als der Verzicht auf Kino, Restaurant, Eisdiele oder Fußballplatz. Laut deutscher Bischofskonferenz waren in Deutschland in 2018 ca. 2,1 Millionen Katholiken und laut EKD 1,2 Millionen Protestanten Gottesdienstteilnehmer. Für muslimische und jüdische Gemeinden, die üblicherweise sehr viel stärker in ihrem Glauben leben als die doch ziemlich säkularisierten deutschen Christen, dürfte es ähnlich bzw. verhältnismäßig noch deutlicher aussehen. Religion ist für viele Menschen wichtig.
In früheren Zeiten waren die Kirchen, da es im Prinzip nichts anderes gab, für Menschen ein Halt während großer Not. Während Pandemien konnte sich das verheerend auswirken, wenn der Erreger von Mensch zu Mensch übertragbar war. Die Menschen versammelten sich zum gemeinsamen Gebet dichtgedrängt in großen Häusern und boten den Erregern damit optimale Möglichkeiten, sich schnell zu verbreiten. Das könnte sich in unserer jetzigen Situation ebenso katastrophal auswirken wie damals. Normale Gottesdienste sind unter den Bedingungen einer Pandemie nicht durchführbar, ohne das Leben vieler Menschen zu gefährden. Insbesondere, da Religiosität deutlich mit Alter korreliert. Die ältesten Mitglieder unserer Gesellschaft sind durch COVID-19 so bedroht wie kaum jemand und gleichzeitg die, die am meisten spiritueller Erfüllung bedürfen. Das ist ein Dilemma, das man nicht unterschätzen sollte. Ein spiritueller Mensch der seinen Glauben nicht leben kann leidet. Das ist ein Stressor, den man nicht unterschätzen sollte. Zu allen Zeiten und in allen Kulturen sind Menschen gestorben oder eigentlich: haben sich ermorden lassen, weil sie an ihrem Glauben festhalten wollten. In Zeiten der Pandemie ist das festhalten am Glauben umso schwerer, weil nicht nur das eigene Leben gefährdet würde, sondern auch das aller anderen. Auch das ist den meisten Gläubigen klar und das ist ein weiteres Dilemma: Sie wissen, dass es leichtsinnig und gefährlich wäre, sich als Glaubensgemeinschaft zu treffen und gleichzeitig leiden sie unter dieser Unmöglichkeit.
Die katholische und evangelische Kirche in Deutschland haben übereinstimmend alle Gottesdienste und sonstige Veranstaltungen abgesagt, folgen damit den politischen Vorgaben und verhalten sich in diesem Sinne gesellschaftlich verantwortungsvoll und vernünftig. Die Botschaft der beiden großen Konfession ist, den Maßnahmen zur sozialen Distanzierung zu folgen. Dass jede religiöse Gemeinschaft in Deutschland so vernünftig ist, kann ich mir zwar nicht vorstellen, aber zumindest die großen christlichen Konfessionen und soweit ich das mitbekomme, gehen auch die meisten muslimischen und jüdischen Konfessionen in diese Richtung (Für orthodoxe Juden, die am Sabbat keine Elektrizität benutzen dürfen, stellen beatmungspflichtige Patienten eine ganz besondere Herausforderung dar. Und Amerikanische christliche Fundamentalisten – da fehlen mir grade die Worte).
Ich komme wie gesagt aus einem christlich geprägten Umfeld und deswegen bekomme ich in der Hinsicht eine Menge mit, für andere Religionen kann ich deswegen nicht sprechen. Aber ich finde interessant und wissenswert, wie diverse Bistümer, Pfarreien und Pfarrer mit der Pandemie umgehen.
Zunächst werden ganz allgemein und auch in normalen Zeiten Gottesdienste im Fernsehen und Radio übertragen. Man muss nur kurz Google anwerfen (bzw. die Kinder darum bitten) oder ans schwarze Brett der eigenen Pfarrei gucken und wird fündig. Dem Fest des Glaubens am Fernseher oder Radio beizuwohnen ist zwar kein Ersatz für das eigene Erleben, aber ein Trost, der die Hoffnung am leben hält, dass wieder andere Zeiten kommen.
Im Bistum Speyer sollen jeden Abend um 19:30 die Glocken leuten, um die Gläubigen daran zu erinnern, dass es eine christliche Gemeinschaft gibt und zum gemeinschaftlichen Innehalten aufrufen, wenn schon das gemeinsame Treffen nicht möglich ist.
Jaoachim Geisler aus Aachen kam auf die Idee seine Schäfchen zu bitten, ihm ein Photo von sich zuzusenden, dass er ausdrucken und in die Kirchenbänke stellen kann. So hat er nicht das Gefühl, vor einer leeren Kirche die Messe zu lesen und die Gemeindemitglieder haben das Gefühl, dabei zu sein. Auch das Sakrament der Beichte, für gläubige Christen ein unverzichtbarer Bestandteil des religiösen Lebens, ist so durchführbar.
Ludger Jonas aus Emstek hat die Mitglieder seiner Pfarrei gebeten, einen persönlichen Gegenstand in der Kirche abzulegen. So hat er das Gefühl, dass sie bei ihm sind und umgekehrt. Mehr noch: Die Gegenstände sind sie unterschiedlich wie die Menschen selbst und symbolisieren damit die Vielfalt in der Gemeinde. Es sind fast alles Dinge aus dem täglichen Leben, keine Ideale, keine Ikonen. Es ist, was wirkliche Menschen in einer wirklich schwierigen Lage von sich preisgeben.
Ein Pfarrer mit dem meine Eltern gut befreundet sind, hat für den heutigen Palmsonntag eine Menge Palmwedel vorbereitet, die vor der Kirche stehen, damit die Gläubigen sich einen nehmen können. So haben sie Teil am Osterfest, immerhin dem wichtigsten Feiertag der Christenheit.
Diverse Kirchen sind unter der Bedingungen weiterhin geöffnet, dass die Gläubigen verschiedene Zugänge für Ein- und Austritt nutzen, in der Kirche selbst Abstand halten und ihren Aufenthalt auf das Nötigste beschränken.
Man kann das alles bescheuert finden oder gefährlich oder irrational und hat damit von einem gewissen Standpunkt aus recht, aber der Tatsache, dass in diesem unserem Land nennenswert viele Menschen auf das spirituelle Leben in ihren Gemeinden angewiesen sind, sollte man Rechnung tragen. Von ihrer Gemeinde abgeschnitten zu sein ist für spirituelle Menschen Stress, dem man mit relativ einfachen Mitteln abhelfen kann und zumindest so weit ich sehen kann, gibt es da einige gute Ideen. Ich denke sogar, dass es Zeichen dafür ist, wie wir als Gesellschaft enger zusammenrücken, obwohl die räumliche Distanz zugenommen hat.
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