Bei einem Massenanfall von Verletzten bekommt jeder Patient eine nummerierte Patientenanhängekarte, auf der die Ersteinschätzung stehen, die Anamnese, evtl. Zusatzinformationen und, ganz wichtig, die Sichtungskategorie. Es gibt deren vier:
Rot: Akute, vitale Bedrohung/Verletzung. Braucht sofort Hilfe.
Gelb: Schwere vitale Bedrohung/Verletzung. Braucht Hilfe, aber kann warten.
Grün: Leichte vitale Bedrohung/Verletzung oder unverletzt betroffen. Kann später behandelt werden bzw. braucht Betreuung.
Als Faustformel gilt: Grün ist, wer noch laufen kann. Gelb ist, wer noch schreit. Rot kann weder noch. Und: Jeder Gelbe wird ohne Behandlung früher oder später zu einem Roten.
Wer aufgepasst hat, wird merken, dass eine Kategorie fehlt, nämlich die schwerste von allen:
Blau: Keine Überlebenschance
Kategorie blau wird nur auf Ansage benutzt. Sie bedeutet nämlich nicht unbedingt nur, dass Menschen so schwer verletzt sind, dass sie auch bei bestmöglicher Versorgung sterben werden. Sie kann auch bedeuten, dass man Menschen sterben lassen muss, die bei entsprechender Behandlung eine Chance hätten.
Stellen wir uns einen Busunfall im Winter im Schwarzwald vor. Der Bus kommt auf eisglatter Fahrbahn ins Rutschen, stürzt einen Hang hinab. Keiner ist angeschnallt – 60 Verletzte bei eisigen Temperaturen mitten im Nirgendwo. Hubschrauber können wegen des Wetters nicht fliegen, der Rettungsdienst kommt nur langsam voran. Endlich, nach einer halben Stunde: Ein RTW und ein NEF von der nahegelegenen Rettungswache treffen ein, es sind eine Notärztin, zwei Notfall- und ein Rettungssanitäter vor Ort. Für 60 Verletzte. Die vier tun was sie können, teilen die Verletzten nach bestem Wissen und Gewissen ein, Versorgen die Roten zuerst – vielleicht können sie alle retten.
Da bricht einer der Gelben zusammen – Kreislaufstillstand. Aus heiterem Himmel – keine Ahnung, warum. Vielleicht ein Schädel-Hirn-Trauma – so etwas geht oft mit einem symptomfreien Intervall einher – oder eine unbekannte Vorerkrankung, vielleicht der Witterung ausgesetzt und unterkühlt oder in der Aufregung fünf Hübe aus dem Inhalator genommen statt einen. Die vier haben keine Zeit, sich Gedanken um Gründe zu machen. Sie fragen sich stattdessen: Was tun? Eine regelrechte Reanimation bindet zwei Helfer, initial sogar drei, wenn einer einen Zugang legt. Und sie braucht Zeit – eine spontane Kreislaufrückkehr ist außerhalb der Krankenhausumgebung mit ihren Möglichkeiten die Ausnahme. Jeder Sanitäter, der einen ROSC erlebt habt, wird sich ein Leben lang daran erinnern, aber jeder Sanitäter weiss auch, dass ein ROSC sehr selten ist. Also, was tun?
Wie entscheidet sich die Notärztin in dieser Situation? Wie viel Zeit können sich die vier für eine Reanimation mit ungewissem Ausgang einer Situation leisten, in der noch schwer verletzte Patienten versorgt werden müssen, für die fünf Minuten den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten können? Wie viele werden vielleicht sterben, weil man versucht ein Leben zu retten? Was, wenn ein zweiter Patient reanimationspflichtig wird? Die vier können sich nicht zerreißen, die Notärztin weiss das und sie kennt auch die Statistiken zum Outcome verschiedenster Notfallbilder. Und sie weiss, dass die Entscheidung an ihr hängt. Sie ist die oberste Instanz, sie entscheidet über Leben und Tod. Was ist unter diesen Umständen ethisch richtiges Handeln? Was ist fair gegenüber den Patienten? Was wird sie tun?
Ich habe mal gelernt, dass wir in solchen Fällen die Patienten fünf Mal beatmen und wenn dann keine Spontanatmung einsetzt, dann sind sie, so hart das ist, ohne Überlebenschance. Vielleicht wird die Notärztin genauso entscheiden. Fünf Mal beatmen und das Outcome entscheidet über das Schicksal eines Menschenlebens. Weil nicht genügend Ressourcen vorhanden waren es zu retten.
Das ist wirklich hart. Das ist die unmenschliche Konsequenz einer Triage bei einem Massenanfall von Verletzten. Es ist ein ethisches Problem, weil Menschenleben gegeneinander abgewogen werden müssen und ein psychisches Problem, weil der Entscheider ja auch ein ganz normaler, in der Regel empathischer Mensch ist. Triage nimmt einen mit. Bei Übungen schon (zumindest mich) und im Ernstfall sowieso.
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