Nebenan bespricht Joseph Kuhn gerade die ethische Dimension einer potentiellen Impfung gegen das Coronavirus unter der Nebenbedingung, dass in de ersten Zeit mit Sicherheit nicht genügend Impfstoff für alle da sein wird und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Das hat mich auf den Gedanken gebracht, etwas über das generelle ethische Dilemma zu schreiben, mit dem sich jeder auseinandersetzen muss, der im weitesten Sinne helfend tätig ist: Der Tatsache, dass es Situationen gibt, in denen man nicht allen helfen kann und einen Weg finden muss, die knappen Ressourcen bestmöglich einzusetzen. Im medizinischen Kontext gibt es dafür ein griffiges Wort: Triage.
Triage ist die Einteilung von Patienten in Kategorien anhand der Dringlichkeit der Behandlung, idealerweise durch einen Arzt. Das Wort kommt vom Französischen trier (Sortieren), im Deutschen wird die Triage auch Sichtung genannt, insbesondere in der Katastrophenmedizin. Gesichtet wird im Umgang mit Patienten im Grunde immer: Schon wenn sie man sie zum ersten Mal sieht, läuft im Kopf ein Schema zur Einschätzung der Schwere ihrer Leiden und geeigneter Maßnahmen ab. Der Begriff Triage wird dafür aber fast ausschließlich im Zusammenhang mit einem Notfall gebraucht.
In modernen Zeiten, seit der Wert guter Checklisten und algorithmischen Vorgehens auch außerhalb der Luftfahrt erkannt wurde, wird der medizinische Alltag immer stärker vom Abarbeiten bewährter Schemata bestimmt. Die Triage macht dabei keine Ausnahme. Bevor man Patienten in Kategorien einteilen kann, muss man sie aber zunächst Untersuchen und vitale Bedrohungen identifizieren. Im Rettungsdienst hält man sich dazu strikt and das c-ABCDE-Schema, das in weniger als einer Minute die Anamnese und Ersteinschätzung des Patienten, sowie die Entscheidung, ob er kritisch oder nicht kritisch ist ermöglichen soll. Die Buchstaben stehen dabei für die Vitalfunktionen, deren Versagen üblicherweise am schnellsten zum Tod führt:
(c): Das Trauma-c: Gibt es lebensbedrohliche Blutungen?
(A)irway / Luftweg: Sind die Atemwege frei oder verlegt?
(B)reahting / Atmung: Atmet der Patient normal, ist die Atmung gestört oder gar nicht vorhanden?
(C)irculation / Kreislauf: Ist der Kreislauf in Ordnung oder hat der Patient z.B. einen Schock?
(D)isabillity / Neurologie/Internistik: Gibt es Entzündungszeichen, Neurologische Ausfälle, Schlaganfallsymptomatik, etc?
(E)Exposure/Environment / Umgebung: Ist es warm oder kalt, nass oder trocken, etc? Bei dieser Gelegenheit wird der Patient auch wenn möglich entkleidet und der vollständige Bodycheck gemacht.
Mit etwas Übung kann man das ganze Schema in weniger als einer Minute abarbeiten. Jeder, der im Rettungsdienst arbeitet muss es im Schlaf beherrschen. Findet man ein c-, A- oder B-Problem, wird dieses zuerst behandelt. Hat man nur einen Patienten, behebt man es sofort, dann startet das ABCDE-Schema neu. Die Krux bei der Sache ist, dass das ABCDE-Schema als Anamneseschema in dieser Form nur bei einem oder einer Handvoll Patienten angewendet werden kann. Übersteigt die Anzahl Verletzter die Kräfte der Helfer, geht man nach der Ersteinschätzung anders vor. Und das kann einen ganz schön mitnehmen.
Bei einem Massenanfall von Verletzten ist die Sichtung der Verletzten erste Priorität und Aufgabe des Helfers mit der höchsten Notfallmedizinischen Qualifikation – im Besten Fall ist das der Notarzt. Als Rettungssanitäter bin ich so ziemlich die kleinste Kerze auf dem Kuchen und sollte eigentlich nie in die Lage kommen, triagieren zu müssen. Es könnte aber durchaus möglich sein, dass ich im Rahmen eines SEG-Einsatzes mit meinem Fahrzeug der erste an der Einsatzstelle bin und im Einsatz gilt die Regel: Triage macht der Notarzt oder das ersteintreffende Fahrzeug. Ich hoffe, dass es nie dazu kommt und zwar aus einem einfachen Grund: Wenn es hart auf hart kommt und die Luft brennt und die Ressourcen knapp sind und keiner weiss, was in einer Stunde ist und viele Menschen gleichzeitig Hilfe brauchen und man auf den ersten Blick sieht, dass wir nicht alle werden retten können, dann wird derjenige der triagiert zum Herrn über Leben und Tod.
Bei einem Massenanfall von Verletzten bekommt jeder Patient eine nummerierte Patientenanhängekarte, auf der die Ersteinschätzung stehen, die Anamnese, evtl. Zusatzinformationen und, ganz wichtig, die Sichtungskategorie. Es gibt deren vier:
Rot: Akute, vitale Bedrohung/Verletzung. Braucht sofort Hilfe.
Gelb: Schwere vitale Bedrohung/Verletzung. Braucht Hilfe, aber kann warten.
Grün: Leichte vitale Bedrohung/Verletzung oder unverletzt betroffen. Kann später behandelt werden bzw. braucht Betreuung.
Als Faustformel gilt: Grün ist, wer noch laufen kann. Gelb ist, wer noch schreit. Rot kann weder noch. Und: Jeder Gelbe wird ohne Behandlung früher oder später zu einem Roten.
Wer aufgepasst hat, wird merken, dass eine Kategorie fehlt, nämlich die schwerste von allen:
Blau: Keine Überlebenschance
Kategorie blau wird nur auf Ansage benutzt. Sie bedeutet nämlich nicht unbedingt nur, dass Menschen so schwer verletzt sind, dass sie auch bei bestmöglicher Versorgung sterben werden. Sie kann auch bedeuten, dass man Menschen sterben lassen muss, die bei entsprechender Behandlung eine Chance hätten.
Stellen wir uns einen Busunfall im Winter im Schwarzwald vor. Der Bus kommt auf eisglatter Fahrbahn ins Rutschen, stürzt einen Hang hinab. Keiner ist angeschnallt – 60 Verletzte bei eisigen Temperaturen mitten im Nirgendwo. Hubschrauber können wegen des Wetters nicht fliegen, der Rettungsdienst kommt nur langsam voran. Endlich, nach einer halben Stunde: Ein RTW und ein NEF von der nahegelegenen Rettungswache treffen ein, es sind eine Notärztin, zwei Notfall- und ein Rettungssanitäter vor Ort. Für 60 Verletzte. Die vier tun was sie können, teilen die Verletzten nach bestem Wissen und Gewissen ein, Versorgen die Roten zuerst – vielleicht können sie alle retten.
Da bricht einer der Gelben zusammen – Kreislaufstillstand. Aus heiterem Himmel – keine Ahnung, warum. Vielleicht ein Schädel-Hirn-Trauma – so etwas geht oft mit einem symptomfreien Intervall einher – oder eine unbekannte Vorerkrankung, vielleicht der Witterung ausgesetzt und unterkühlt oder in der Aufregung fünf Hübe aus dem Inhalator genommen statt einen. Die vier haben keine Zeit, sich Gedanken um Gründe zu machen. Sie fragen sich stattdessen: Was tun? Eine regelrechte Reanimation bindet zwei Helfer, initial sogar drei, wenn einer einen Zugang legt. Und sie braucht Zeit – eine spontane Kreislaufrückkehr ist außerhalb der Krankenhausumgebung mit ihren Möglichkeiten die Ausnahme. Jeder Sanitäter, der einen ROSC erlebt habt, wird sich ein Leben lang daran erinnern, aber jeder Sanitäter weiss auch, dass ein ROSC sehr selten ist. Also, was tun?
Wie entscheidet sich die Notärztin in dieser Situation? Wie viel Zeit können sich die vier für eine Reanimation mit ungewissem Ausgang einer Situation leisten, in der noch schwer verletzte Patienten versorgt werden müssen, für die fünf Minuten den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten können? Wie viele werden vielleicht sterben, weil man versucht ein Leben zu retten? Was, wenn ein zweiter Patient reanimationspflichtig wird? Die vier können sich nicht zerreißen, die Notärztin weiss das und sie kennt auch die Statistiken zum Outcome verschiedenster Notfallbilder. Und sie weiss, dass die Entscheidung an ihr hängt. Sie ist die oberste Instanz, sie entscheidet über Leben und Tod. Was ist unter diesen Umständen ethisch richtiges Handeln? Was ist fair gegenüber den Patienten? Was wird sie tun?
Ich habe mal gelernt, dass wir in solchen Fällen die Patienten fünf Mal beatmen und wenn dann keine Spontanatmung einsetzt, dann sind sie, so hart das ist, ohne Überlebenschance. Vielleicht wird die Notärztin genauso entscheiden. Fünf Mal beatmen und das Outcome entscheidet über das Schicksal eines Menschenlebens. Weil nicht genügend Ressourcen vorhanden waren es zu retten.
Das ist wirklich hart. Das ist die unmenschliche Konsequenz einer Triage bei einem Massenanfall von Verletzten. Es ist ein ethisches Problem, weil Menschenleben gegeneinander abgewogen werden müssen und ein psychisches Problem, weil der Entscheider ja auch ein ganz normaler, in der Regel empathischer Mensch ist. Triage nimmt einen mit. Bei Übungen schon (zumindest mich) und im Ernstfall sowieso.
Ich denke, dass in greifbarer Zukunft ein Impfstoff zur Verfügung steht und produziert wird – vielleicht nicht in einem Monat, vielleicht nicht mal in diesem Jahr, aber wahrscheinlich nicht erst in zehn. Dann wird bei der Verteilung ebenfalls triagiert werden müssen. Und das wird dann für die Verantwortlichen besonders hart, denn zu Anfang wird die Zahl zu Impfender maximal sein, während der Impfstoff knapp verfügbar ist. Es gibt dann zur Verteilung mehrere Möglichkeiten und alle sind mehr oder minder ungerecht. Gehen wir vom besten möglichen Impfstoff aus: Geimpfte sind nicht mehr infektiös und vollständig immun. Ich zum Beispiel sollte weit unten auf der Prioritätenliste stehen, denn als Mittdreißiger ohne besondere Vorerkrankungen muss ich mir um eine Erkrankung vergleichsweise wenig Sorgen machen, wenn man mich mit den typischen Patienten im Krankenhaus oder jeder beliebigen Person aus der Generation meiner Eltern vergleicht. Allerdings bin ich als Mitglied der SEG-SAN des Rhein-Pfalz-Kreises zu diesem Zeitpunkt möglicherweise in irgendeiner Form im Einsatz, sei es als Helfer bei einer Fieberambulanz, im Rettungsdienst, oder beim Essen auf Rädern, wo ich mit allerlei Menschen, viele davon aus Risikogruppen zusammentreffe. Also rücke ich vielleicht wieder auf einen höheren Platz und nehme im Zweifel damit jemandem die lebensrettende Impfdosis weg. Im Prinzip ist das beim gesamten medizinischen Personal so und ähnlich sieht es bei anderen wichtigen Berufen aus, z.B. Polizeibeamten, der Feuerwehr, etc. und jedem, der viel mit Risikogruppen oder auch nur prinzipbedingt vielen Menschen zu tun hat (Lehrer zum Beispiel?).
Alter allein ist auch kein ausreichend guter Marker. Man könnte zwar alle Menschen nach Altersklassen einteilen und mit den Ältesten Anfangen, aber dann ergäbe sich das Problem der Verteilung innerhalb der höchstens Altersklassen. Für die Klasse der 0 bis 50-Jährigen besteht, falls keine Vorerkrankungen vorliegen, ein sehr viel geringeres Risiko als für alle Älteren, also stehen wir die zunächst ganz sicher zurück. In unseren modernen Zeiten gibt es aber auch nennenswert viele 100-Jährige und leben viele Menschen bis weit über 90, allerdings gesundheitlich immer in einem labilen Gleichgewicht, das sich, ein Mal gestört, erstaunlich schnell bis zum Tod verschlechtern kann. Zwischen 60 und 80 haben heute viele Menschen noch sehr viel Lebensqualität. Mit jedem Jahr, das Menschen älter werden steigt aber nicht nur ihr Risiko, an COVID-19 zu sterben, sondern auch durch alle anderen Ursachen. Ginge man rein nach Alter, müsste man die Ältesten bevorzugen, aber von diesen werden viele aus anderen Gründen kurz nach der Impfung sterben – wäre es also gerecht, sie zu bevorzugen, wenn dadurch nennenswert vielen 60-Jährigen die Chance auf 20 gute Jahre genommen wird? Auf der anderen Seite sind es auch Menschen und sie haben es verdient, weiterzuleben. Und da wir nicht wissen, wie lange der einzelne lebt, gebietet uns nicht die Menschlichkeit, ihr oder sein Leben so lange zu erhalten, wie es lebenswert ist? Wäre es gerecht, die ganz alten zurückzustellen? Ich will gar nicht behaupten, dass ich auf diese Frage eine Antwort hätte. Menschenleben wiegt man nicht leichtfertig gegeneinander gab. Aber möglicherweise werden wir als Gesellschaft mit dieser Situation irgendwie umgehen müssen.
Die Politik trägt diesem Problem zurzeit Rechnung, indem die STIKO durch die Bundesregierung beauftragt wurde, ein “risikoorientiertes Priorisierungskonzept” zu entwickeln. Das ist mit Sicherheit ein guter Weg vorwärts – wird aber wahrscheinlich auch dazu führen, dass die Priorisierung des Individuums anhand eines mehr oder minder komplexen Reglements ermittelt werden wird. Ich vermute, dass im ersten Wurf eine Art Entscheidungsbaum generiert werden wird, zu dem aber sicherlich zahlreiche Ausnahmen und Sonderfälle kommen. Alle Probleme wird das sicher nicht lösen, aber wenn durch ein etwas komplexeres Verfahren mehr Menschenleben gerettet werden können als durch ein einfaches, und gerade im Hinblick auf die ethischen Herausforderungen, dann klingt das für mich zunächst mal wie eine sinnvolle Sache.
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