Engländern gelang eines Tages eine große Erfindung: Sie komprimierten Ethylengas, auf 1.000 und mehr Atmosphären, und erhielten einen Kunststoff – Polyethylen. Von billigem Ausgangsmaterial über ein billiges Verfahren zu einem wertvollen Produkt.

Den Engländern stand die Bedeutung ihrer Erfindung klar vor Augen: Polyethylen ist je nach Verfahrungsführung und Additiven hart oder weich. Man kann den Kunststoff lebensmittelecht machen, kochfest, beständig gegen Säuren und Laugen. Man kann so vielseitige Dinge wie Gehäuse daraus machen, Seile, Isolierung für Kabel und Leitungen, harte und flexible Rohre, Essgeschirr, Folien und Tüten, Paneele und Tausend andere Sachen mehr. Polyethylen war eines der Materialien, die das Kunststoffzeitalter einläuteten und in einer Zeit, in der der Begriff Technikfolgenabschätzung noch nicht erfunden war, versprach er den Beginn einer neuen Ära der Konsumgüter.

Aber dann tauchten Fragen auf: Produkte und Prozesse sind zwar patentierbar, aber ein Patent ist keine Gewähr für gute Gewinne. Höchstens 20 Jahre hält der Patentschutz und mindestens fünf Jahre braucht man, um die Fabrikation in Gang zu bringen. Würde man eine Fabrik bauen können, die die ganze Welt belieferte? Was, wenn ein Konkurrent in der Zwischenzeit einen Prozess entwickelt, der besser ist? Mit der Erteilung des Patents wird dasselbe in der Regel veröffentlicht. Was vorher Geheimwissen des Erfinders war, ist dann für jeden zugänglich. Der Konkurrenz sind damit vielleicht wertvolle Hinweise gegeben, die zu einem anderen, nicht mehr vom Patent gedeckten Verfahren oder Produkt führen. Die Produktionsanlagen wären dann sehr schnell entwertet (So geschehen als z.B. das Ostwald-Verfahren zur Salpetersäureproduktion entwickelt wurde und innerhalb weniger Jahre alle anderen aus dem Markt drängte).

Die Engländer entschlossen sich deswegen, ihren Prozess anderen zur Verfügung zu stellen. Gegen Gebühr. Sie gingen Lizenzverträge mit den großen Chemieunternehmen der damaligen Zeit überall auf der Welt ein. Daraus erwuchsen Geschäftsbeziehungen, die bis zum Ende der englischen Firma in den 2000er Jahren bestand hatten. Aus potentiellen Konkurrenten wurden so, wenn nicht gerade Freunde, dann doch Vertragspartner mit gleichen Interessen.

Lizenzverträge sind keine Einbahnstraßen. Knoff-Hoff und Erfahrungen fließen in alle Richtungen und erlauben allen, sich weiterzuentwickeln. Natürlich versucht jeder der Größte zu sein, aber der Umgang miteinander ist sehr viel fairer, offener und im Endeffekt profitabler für alle.

Und warum jetzt diese kleine Geschichte vom Polyethylen: Weil vor kurzem eine Mainzer Firma namens BioNTech gemeldet hat, dass sie die Zulassung eines Corona-Impfstoffs beantragt hat und mit der Massenproduktion beginnen will, nachdem die klinischen Tests wohl sehr vielversprechend verlaufen.

Die Leute von BioNTech werden sich dieselben Fragen stellen, wie vor fast 90 Jahren die Engländer. Dabei werden sie vermutlich unter noch stärkerem Konkurrenzdruck stehen als ICI damals, denn zurzeit forschen so viele Institute und Firmen an Impfstoffen, dass die Annahme nicht unplausibel erscheint, dass in absehbarer Zeit auch anderen ein Durchbruch gelingen wird, der vielleicht sogar zu einem besseren Produkt oder einem günstigeren Herstellungsprozess führt. Dazu kommt, dass Industriespionage heute ein viel größeres Problem ist als damals, wo man noch physikalische Aktenordner bzw. photographische Filme in Besitz bringen und transportierten musste.

Nun kann ich nicht beurteilen, wie nah oder fern der reale Impfstoff noch ist und will auch keine unbegründeten Hoffnungen schüren, aber ich denke, wenn es einen gibt und alle Zulassungshürden genommen sind, dann wird der Entwickler alles daran setzen, 1. soviel wie möglich selbst zu produzieren (BioNTech hat z.B. eine Produktionsstätte von Novartis in Marburg gekauft) und 2. die Lizenz an so viele Produzenten wie möglich zu verkaufen (Auch das hat BionNTech anscheinend schon, denn schon die Studien finden in Zusammenarbeit mit Pfizer statt). Und zwar aus ganz einfachen pekuniären Erwägungen. Denn das Zeitfenster für die alleinige kommerzielle Auswertung ist möglicherweise sehr kurz und der Vorsprung zur Konkurenz vielleicht nur so groß wie die Dicke eines Blattes Papier.

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Kommentare (6)

  1. #1 Rob
    Oberland
    19. Oktober 2020

    Soweit ich weiß wurde Biontech vom Bund mit 350 mio Euro gefördert. Ich bin mal gespannt wie sich das auf die Verteilungsfrage auswirkt.

  2. #2 RPGNo1
    19. Oktober 2020

    Um eine Metapher aus dem Fußball zu bemühen: BioNTech mag die Vorrunde gewonnen haben, den Siegerpokal halten sie noch nicht in den Händen.

    In der pharmazeutischen Welt sind noch so einige Stolpersteine.

    Die Produktionskapazitäten werden nicht ausreichen, um eine enorm hohe Anzahl von Dosen herzustellen.
    Wie steht um die Immunitätsrate der Geimpften? Werden 50 % oder 70 % oder 90 % geschützt sein?
    Was ist mit potentiellen Nebenwirkungen, die sehr selten sind und die erst bei einer großen Anzahl von Impfungen offensichtlich werden?
    Wie sieht es mit Stabilität und Lagerbedingungen und -dauer aus, welche in Dritte-Welt-Ländern eine wichtige Rolle spielen?
    Wie steht es um Biologie und Physiologie der Impfkandidaten? Impfstoff A mag für alte Personen besser geignet sein, Impfstoff B für Asiaten.

    Ich denke, dass sich über die nächsten Jahre nach einer Konsolidierungsphase wenige Impfstoffe aus den vielen Kandidaten (*) herauskristallieren, die den Markt dominieren werden und weitere, die dann als Backup fungieren.

    (*) Ich bin zuversichtlich, dass einige Impfstoffe die Phase III erfolgreich überstehen werden.

    • #3 Oliver Gabath
      31. Oktober 2020

      Gerade weil sie viele Dosen hergestellt werden müssen und die eigenen Kapazitäten nicht ausreichend wird die Firma, die einen Impfstoff entickwickelt hat, mit ziemlicher Sicherheit die Lizenz dafür so breit verkaufen wie möglich.
      Was meinst Du mit den Bemerkungen zu Nebenwirkungen, Immunitätsrate, etc. – sind die verschiedenen Studien-Stufen nicht dazu da, um das abzuklopfen?

  3. #4 Gerald Fix
    20. Oktober 2020

    Höchstens 20 Jahre hält der Patentschutz

    Woher kommt eigentlich die Diskrepanz zwischen dem ziemlich kurzen Patenschutz und dem überaus langen Urheberrechtsschutz, der ja bis 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers – also auch mal 150 Jahre – währt?

  4. #5 user unknown
    https://demystifikation.wordpress.com/2020/03/14/coronaprophylaxe/
    21. Oktober 2020

    Körperhygiene?

  5. #6 Dalek Sander
    27. Oktober 2020

    @ Gerald Fix: Buchautoren, Komponisten, bildende Künstler etc. bilden eher selten Kartelle und wenn sie ihr Monopol auf ihrem Gebiet nutzen, dann doch in eine andere Weise als Wirtschaftsunternehmen.

    Mit anderen Worten: man stelle sich vor, „Patentrechte“ auf Werke liefen nach 20 Jahren ab. Seit drei Jahren dürfte dann jeder nach seinem Gusto einen, sagen wir, Harry-Potter-Roman, Teil eins, unter eigenem Namen veröffentlichen. Den Sinn einer solchen Maßnahme bei Seite gelassen, aber möglich wäre es. Absurd zudem auch noch.

    Viele Grüße