Insbesondere in den wichtigsten Feldern hat EU den Britischen Forderungen nach eigener Darstellung nicht nachgegeben:
Auch wenn es anders dargestellt wird, der EuGH ist auf EU-Seite immer noch das Gremium, das über die Einhaltung von Richtlinien durch Vertragspartner urteilt. Denn falls die Kommission Vertragsbruch durch einen Partner vermutet, wird der Fall zunächst dem EuGH vorgelegt, dieser urteilt dann darüber und anschließend wird der im FTA festgelegte Mediationsvorgang gestartet. In EU-FTA ist die Standardprozedur hierführ ein gemeinsames Kommitte aus benannten Personen beider Seiten (vielleicht erinnert sich noch jemand an die Diskussionen über die privaten Schiedgerichte damals bei TTIP. Das ist so was). Liefert die Mediation kein Ergebnis, kann die EU mit Strafmaßnahmen reagieren. Das ganze funktioniert natürlich auch in die Gegenrichtung: Falls das VK die EU für vertragsbrüchig ansieht, wird der Mediationsprozess ebenfalls gestartet mit ähnlichem Ergebnis. Das öffnet natürlich der Möglichkeit Tür und Tor, dass sich beide Seiten dauernd gegenseitig beschuldigen und der ganze Vertrag zusammenbricht. Wenn die Erfahrung aus den FTA mit anderen Ländern etwas zählt, dann ist das Risiko dafür in der Praxis klein. Eingedenk des Verhaltens der Regierung Ihrer Majestät, z.B. in der Frage der Zollgrenze in der Irischen See und der Internal Market Bill ist es aber beleibe nicht null. Ein gemeinsames Mediationskommittee ist übrigens auch für Vertragsstreitigkeiten mit den EEA-Ländern vorgesehen – der EuGH hat nur über den EEA-Vertrag selbst alleinige Schiedsgewalt, Differenzen über einzelne EU-Direktiven müssen einvernehmlich aufgelöst werden.
Persönlich finde ich diesen Punkt mit am Wichtigsten, denn er macht deutlich wie fein die Linie zwischen de jure und de facto ist: De jure ist es nicht der EuGH, der die EU im Mediationsprozess vertritt. Der Start des Prozess von EU-Seite (und die juristische Bewertung, aus der sich das Mandat der EU-Mediatoren ableitet) hängt aber von seinem Urteil ab. Weder de facto, noch de jure wird das VK um die Berücksichtigung von EU-Direktiven herumkommen, auch wenn der EuGH nur mittelbar an der Entscheidung beteiligt ist. Betrachtet man die berühmte Folie, die Barnier in 2017 vorgestellt hat, dann findet man, dass für das Handelsabkommen zwischen EU und Kanada bzw. Korea (und sogar für die Zollunion mit der Türkei) ebenfalls kein direkter EuGH-Bezug aufgeführt ist. Und docht steckt er immer mit drin. Die EU ist übrigens im Gegenzug immer zur Gleichbehandlung der Vertragspartner verpflichtet, d.h. unterliegt mittelbar der juristischen Bewertung durch das zuständige Gericht des Vertragspartners. Da die EU aber der bei weitem größere Spieler ist, hat das in der Praxis keine allzu großen Auswirkungen.
Passporting und einfacher Zugang für Dienstleistungsunternehmen werden nicht automatisch gewährt, sondern hängen an nationalen und EU-weiten Regularieren, was für beide Seiten die Dinge nicht einfacher macht, das VK mit seinem starken Fokus auf Finanzdienstleistungen aber stärker trifft. 20 % der gesamten Wirtschaftsleistung werden von international tätigen Dienstleistern generiert. Eine Briefkastenfirma in der EU zu eröffnen ist nach neustem EU-Recht auch nicht mehr zulässig. Die Assets müssen in die EU transferiert und von dort aus betreut werden. Bisher wurden Assets im Wert von rund 1,5 Billionen € aus London in die EU transferiert, Tendenz bisher mehr oder minder gleichbleibend. Die britische Darstellung tanzt um diesen Punkt ein bisschen herum, indem der Fokus nicht auf den Verlust der Reibungsfreiheit, sondern auf das grundsätzliche Beibehalten des Zugangs überhaupt gelegt wird. Ich glaube zwar nicht, dass eines der Finanzzentren auf dem Kontinent jemals so stark wird wie London zurzeit noch ist, aber ich bin skeptisch ob London seinen Status als Finanzhauptstadt der Welt wird beibehalten können. Reibung erzeugt eben Verluste.
Nicht-Zoll-Barrieren für den Güterverkehr werden errichtet und die Zollgrenze in der Irischen See zwischen Nordirland und Großbritannien bleibt bestehen. Das scheint irgendwie so selbstverständlich zu sein, dass niemand groß davon berichtet, obwohl zwischen 2018 und Ende 2019 praktisch um nichts anderes gestritten wurde. Das Austrittsabkommen vollständig zu implementieren war von Anfang an eine Bedingung der EU und außer dem ziemlich unrühmlichen IMB-Stunt hat VK keinen ernsthaften Versuch unternommen, daran noch etwas zu ändern.
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