Das Freihandelsabkommen (FTA) zwischen EU und VK ist unter Dach und Fach (Na ja, so irgendwie…). Lange genug hat’s gedauert, aber der gefürchtete No-deal ist abgewendet. Da der Text noch nicht veröffentlicht ist, kann man schwerlich sagen, wer jetzt wo wieviel gewonnen oder verloren hat. Bisher kann man sich nur an den Statements der EU und des VK orientieren. Und da ich mich zurzeit noch von Covid erhole – ja, mich hat’s auch erwischt – und damit über die Feiertage jede Menge Zeit habe, folge ich einem meiner guilty pleasures und schreibe etwas zum EU-UK-FTA
Hier die EU-Seite – Kurz und knapp, eine Folie.
Hier die VK-Seite – Sehr viel ausführlicher, aber mit jeder Menge Floskeln, die es schwierig machen, die eigentliche Aussage zuerfassen.
Wie nicht anders zu erwarten sind beide Darstellungen zueinander widersprüchlich. Schauen wir uns mal ausgewählte Punkte an.
Freizügigkeit ist mit Sicherheit etwas, was die EU gerne behalten hätte, aber dass das VK das nicht akzeptieren würde, war klar. Zusammen mit den Betragszahlungen war das immerhin die raison d’être des Brexit. Deswegen gibt’s ja auch keinen reibungslosen Waren- und Dienstleistungsverkehr. Ein Freihandelsabkommen ist eben keine Zollunion und schon gar kein Binnenmarkt.
Zollfreier Warenhandel war mehr oder minder klar und erklärtes Ziel beider Seiten. Deswegen wurde darüber in den letzten fünf Jahren auch so gut wie kaum berichtet und wenig überraschender Weise herrscht an diesem Punkt Einigkeit. Allerdings bedeutet Zollfreiheit nicht Reibungsfreiheit, denn die nicht-Zoll-Barrieren bleiben prinzipiell bestehen. Zum Beispiel verlieren EU und VK das automatische Kabotagerecht, also die Erlaubnis für Transportunternehmen aus EU, innerhalb des VK Waren zu transportieren und umgekehrt. Punkt-zu-Punkt-Transporte sind möglich, d.h. ein LKW mit Autoteilen von Polen nach England kann immer noch losgeschickt werden, allerdings darf er danach wieder nur eine Punkt-zu-Punkt-Strecke zurück in die EU nehmen. Tranportaufträge innerhalb des VK sind ihm dann verboten. Das gilt sinngemäß natürlich auch für die Gegenrichtung. Ausnahmen von der Regel sind möglich, hängen aber von der Zustimmung des EU-Mitgliedstaates ab (Transport gehört zu den Geteilten Kompetenzen). Außerdem werden Grenzkontrollen, z.B. für verderbliche Waren Pflicht und man sollte nicht glauben wie kompliziert es ist, eine Holzpalette oder eine Seekieferkiste aus einem Drittland in die EU einzuführen. Damit wir uns gleich richtig verstehen: Das ist kein Sieg für irgendwen, sondern kostet Geld und Zeit auf beiden Seiten, führt zu mehr Bürokratie und dämpft beider Partner internationale Wettbewerbsfähigkeit. Auf EU-Seite ist es nur insofern besser als die Alternative, indem dass die Integrität des Binnenmarktes gewahrt wird, aber es ist ganz klar nur eine schadensreduzierende Maßnahme und bringt keine Vorteile für niemanden. Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe: Wenn ich einen Tag auf ein Gerät aus VK warten muss, dass ich innerhalb des Binnenmarktes in acht Stunden haben kann, dann werde ich mich in bestimmten Situationen dafür entscheiden. Selbst wenn die Britische Firma mir Geld bezahlt, dass ich ihr Gerät kaufe. Ein Tag Produktionsausfall einer großen Chemieanlage kann locker 25.000 € entgangenen Gewinns (nicht Umsatz!) kosten, plus ggf. Konventionalstrafe. Innerhalb des Binnenmerkts ist die Beschaffung kritischen Equipments vergleichsweise einfach, deswegen sind die nicht-Zoll-Barrieren auch ein viel größeres Problem als man im ersten Moment denkt.
Fischerei ist ein definitiver Sieg für das VK, allerdings kann man sich darüber streiten, ob eine Branche die weniger als 10.000 Menschen beschäftigt und weniger Umsatz macht als Harrods den Aufwand wert war. Der Gesamtwert der Zugeständnisse der EU wird explizit genannt: 146 Millionen Pfund. Eingedenk der Größe beider Volkswirtschaften ist das grotesk.
VK wird keine Mitgliedsbeiträge mehr an die EU zahlen, sondern nur noch für Programme an dem es teilnehmen will, wie Euratom. Damit wurde eine weitere Bedingung der Leave-Seite erfüllt. Das VK verlässt damit auch die gemeinsame Agrapolitik (CAP), d.h. die Britischen Bauern bekommen keine Subventionen mehr. CAP hat mit Sicherheit eine Menge Probleme und müsste ernsthaft reformiert werden – vor allem die Allokation von Subventionen anhand der Größe des Hofes ist ein gravierender Konstruktionsfehler. Dazu gedacht, EU-Landwirte gegen die Megafarmen in den USA und um den Äquator abzuschirmen und lokale Produktion von Lebensmitteln hoher Qualität sicherzustellen führt sie auch dazu, dass schleichend gerade die kleineren Höfe zugunsten der großen verschwinden. CAP ist mit jeder Menge Problemen behaftet, aber gibt Europa eine gewisse Versorgungssicherheit an Lebensmitteln, die sich gerade an Krisenzeiten bewährt. VK ist ein Nettoimporteur und erzeugt nur ca. 60 % der konsumierten Nahrung selbst. Damit sich das ändert, müssten entweder eigene Subventionswege gefunden werden oder der Markt auf anderem Wege abgeschirmt oder die einheimische Landwirtschaft der Weltkonkurenz preisgegeben und damit vermutlich stark dezimiert werden. Einen gangbaren Ansatz diesen Kreis zu quadrieren hat die Regierung Ihrer Majestät bisher noch nicht zur Diskussion gestellt.
Insbesondere in den wichtigsten Feldern hat EU den Britischen Forderungen nach eigener Darstellung nicht nachgegeben:
Auch wenn es anders dargestellt wird, der EuGH ist auf EU-Seite immer noch das Gremium, das über die Einhaltung von Richtlinien durch Vertragspartner urteilt. Denn falls die Kommission Vertragsbruch durch einen Partner vermutet, wird der Fall zunächst dem EuGH vorgelegt, dieser urteilt dann darüber und anschließend wird der im FTA festgelegte Mediationsvorgang gestartet. In EU-FTA ist die Standardprozedur hierführ ein gemeinsames Kommitte aus benannten Personen beider Seiten (vielleicht erinnert sich noch jemand an die Diskussionen über die privaten Schiedgerichte damals bei TTIP. Das ist so was). Liefert die Mediation kein Ergebnis, kann die EU mit Strafmaßnahmen reagieren. Das ganze funktioniert natürlich auch in die Gegenrichtung: Falls das VK die EU für vertragsbrüchig ansieht, wird der Mediationsprozess ebenfalls gestartet mit ähnlichem Ergebnis. Das öffnet natürlich der Möglichkeit Tür und Tor, dass sich beide Seiten dauernd gegenseitig beschuldigen und der ganze Vertrag zusammenbricht. Wenn die Erfahrung aus den FTA mit anderen Ländern etwas zählt, dann ist das Risiko dafür in der Praxis klein. Eingedenk des Verhaltens der Regierung Ihrer Majestät, z.B. in der Frage der Zollgrenze in der Irischen See und der Internal Market Bill ist es aber beleibe nicht null. Ein gemeinsames Mediationskommittee ist übrigens auch für Vertragsstreitigkeiten mit den EEA-Ländern vorgesehen – der EuGH hat nur über den EEA-Vertrag selbst alleinige Schiedsgewalt, Differenzen über einzelne EU-Direktiven müssen einvernehmlich aufgelöst werden.
Persönlich finde ich diesen Punkt mit am Wichtigsten, denn er macht deutlich wie fein die Linie zwischen de jure und de facto ist: De jure ist es nicht der EuGH, der die EU im Mediationsprozess vertritt. Der Start des Prozess von EU-Seite (und die juristische Bewertung, aus der sich das Mandat der EU-Mediatoren ableitet) hängt aber von seinem Urteil ab. Weder de facto, noch de jure wird das VK um die Berücksichtigung von EU-Direktiven herumkommen, auch wenn der EuGH nur mittelbar an der Entscheidung beteiligt ist. Betrachtet man die berühmte Folie, die Barnier in 2017 vorgestellt hat, dann findet man, dass für das Handelsabkommen zwischen EU und Kanada bzw. Korea (und sogar für die Zollunion mit der Türkei) ebenfalls kein direkter EuGH-Bezug aufgeführt ist. Und docht steckt er immer mit drin. Die EU ist übrigens im Gegenzug immer zur Gleichbehandlung der Vertragspartner verpflichtet, d.h. unterliegt mittelbar der juristischen Bewertung durch das zuständige Gericht des Vertragspartners. Da die EU aber der bei weitem größere Spieler ist, hat das in der Praxis keine allzu großen Auswirkungen.
Passporting und einfacher Zugang für Dienstleistungsunternehmen werden nicht automatisch gewährt, sondern hängen an nationalen und EU-weiten Regularieren, was für beide Seiten die Dinge nicht einfacher macht, das VK mit seinem starken Fokus auf Finanzdienstleistungen aber stärker trifft. 20 % der gesamten Wirtschaftsleistung werden von international tätigen Dienstleistern generiert. Eine Briefkastenfirma in der EU zu eröffnen ist nach neustem EU-Recht auch nicht mehr zulässig. Die Assets müssen in die EU transferiert und von dort aus betreut werden. Bisher wurden Assets im Wert von rund 1,5 Billionen € aus London in die EU transferiert, Tendenz bisher mehr oder minder gleichbleibend. Die britische Darstellung tanzt um diesen Punkt ein bisschen herum, indem der Fokus nicht auf den Verlust der Reibungsfreiheit, sondern auf das grundsätzliche Beibehalten des Zugangs überhaupt gelegt wird. Ich glaube zwar nicht, dass eines der Finanzzentren auf dem Kontinent jemals so stark wird wie London zurzeit noch ist, aber ich bin skeptisch ob London seinen Status als Finanzhauptstadt der Welt wird beibehalten können. Reibung erzeugt eben Verluste.
Nicht-Zoll-Barrieren für den Güterverkehr werden errichtet und die Zollgrenze in der Irischen See zwischen Nordirland und Großbritannien bleibt bestehen. Das scheint irgendwie so selbstverständlich zu sein, dass niemand groß davon berichtet, obwohl zwischen 2018 und Ende 2019 praktisch um nichts anderes gestritten wurde. Das Austrittsabkommen vollständig zu implementieren war von Anfang an eine Bedingung der EU und außer dem ziemlich unrühmlichen IMB-Stunt hat VK keinen ernsthaften Versuch unternommen, daran noch etwas zu ändern.
Ich hab an anderer Stelle gelesen, dass mit dem EU-UK-FTA VK praktisch dieselben Vorteile hätte wie Norwegen und die Schweiz, ohne deren Nachteile. Wenn ich ehrlich bin, ich sehe das nicht: Alle möglichen Reibungspunkte beim grenzüberschreitenden Handel, denen die EEA-Länder nicht unterliegen, gelten jetzt für VK. Die Zollfreiheit ist der einzige Punkt, den sie gemeinsam haben.
Zugang zu den Sozialsystemen für Geschäftsreisende und Delegierte ist anscheinend geklärt: Jede Person zahlt weiterhin in das nationale System des Heimatlandes ein und wird aus dem nationalen System des Gastlandes versorgt. Ob und wie Ausgleichszahlungen zwischen Systemen fließen ist anscheinend auch geklärt. Das ist mit Sicherheit ein positives Ergebnis.
Wie es aussieht, sind noch eine Menge Punkte offen. Wie wird man in Zukunft mit der gegenseitigen Anerkennung von Qualifikationen umgehen? Im Abkommen ist anscheinend ein “Rahmen” vorgesehen, aber das kann alles und gar nichts heißen. Zurzeit hat das VK keine benannten Stellen, um Sachverständige für Druckgeräte, Maschinen, etc. zu benennen. Das ist ein juristisches Problem, denn wenn sich eine Firma auf die Aussage eines Sachverständigen ohne anerkannte Qualifikation verlässt, dann hat sie im Falle eines Unfalls vor Gericht ganz schlechte Karten. Gleiches gilt für alle Arten medizinischer Profis, angefangen bei Ärzten, aber auch Krankenpfleger, Sanitäter, etc. Oder Wartungspersonal für sicherheitsgerichtete Systeme, Fluggerätemechaniker, etc. Das ist ein ganzes Buch voller Probleme, das bisher noch gar nicht aufgemacht wurde, das aber zu jeder Menge Reibung auf der jeweiligen Arbeitsebene führen wird. Das ist kein unlösbares Problem, aber wieder eins, das zeigt was passiert, wenn man Verträge, die eine komplizierte Welt zumindest ein bisschen einfacher machen verläst, ohne einen brauchbaren Ersatz dafür zu haben. Auch der gemeinsame Energiemarkt ist noch nicht wirklich geklärt und ob bzw. wie viel von Programmen wie Galileo und Erasmus ersetzt werden wird, steht auch noch in den Sternen. Oder der Luftverkehr. Überall ist von “Rahmen” und “grundsätzlichen Übereinkünften” die Rede, aber nichts Konkretes. Es wird Jahre dauern, das alles aufzulösen.
Egal von welcher Seite man jetzt den Vetrag betrachtet, über eines sind sich die vernünftigen Leute auf beiden Seiten völlig einig: Das Zustandekommen ist ein demokratischer Albtraum. Auf beiden Seiten entscheiden de facto die Regierungen, auf EU-Seite sogar de jure, ohne dass die Parlamente sinnvoll miteinbezogen werden. Das Britische Unterhaus, der eigentliche Souverän im VK, hat vier Tage Zeit die 2.000 Seiten Vertragsdokument durchzuarbeiten. Einige Gruppen (z.B. die ERG. Hätte nicht gedacht, dass ich mal mit denen übereinstimme, aber in der Frage haben sie recht) und Einzelpersonen haben sich zwar darüber beschwert, dass die Zeit viel zu knapp ist, erfahrungsgemäß wird es aber keine große Rebellion geben und die Unzufriedenen werden bestenfalls mit Enthaltung, nicht mit Gegenstimmen reagieren. Der Europarat hat auf Anraten der EU-Kommission beschlossen, den Vetrag vorläufig in Kraft zu setzen. Was weder ungewöhnlich, noch unsauber wäre, hätte das EU-Parlament im Vorfeld die Möglichkeit, sinnvoll seine Zustimmung zu geben. Aber dort hat man dasselbe Problem wie jenseits des Kanals: zu wenig Zeit. Der einzige Silberstreif hier ist, dass der Europrat in eigener Machtvollkommenheit nur solche Artikel das Abkommens zur Anwendung bringen kann, die alleinige EU-Kompetenzen betreffen und jedes EU-Mitglied entscheiden kann, ob es auf Gebieten mit geteilter Kompetenz, wie z.B. Transport, die entsprechenden Artikel umsetzt oder nicht. Außerdem ist die vollständige Ratifikation immer noch von der Zustimmung des Europaparlaments abhängig.
Nichtsdestotrotz fehlt für den Moment de facto total die parlamentarische Kontrolle. So werden die Parlamente auf beiden Seiten zu Stempelmaschinen degradiert und der demokratische Prozess ad absurdum geführt. Anstatt den selbst gegebenen Regeln zu folgen, hebelt man sie für einen filzigen Hinterzimmerdeal aus. Und all jene, die die EU für undemokratisch halten oder generell politikverdrossen sind, dürfen sich bestätigt fühlen. Mit dieser Entscheidung haben sowohl VK als auch (und ganz besonders!) EU ihren jeweiligen Populisten Munition für Jahre geliefert. Es wäre zwar möglich, dass das Europaparlament den Vertrag nachträglich ablehnt, allerdings glaube ich nicht, dass sich unter den Parlamentarieren genügend Aufrechte finden, einen ein Mal akzeptierten Vertrag nachträglich noch zu kippen.
Und so dürfte es das gewesen sein. Der Vertrag ist vielleicht für beide Seiten wirklich das Beste aus beiden Welten, aber durch die Art des Zustandekommens kann man sich dessen einfach nicht sicher sein. In einem beispielhaften Präzendenzfall für den wahren Wert der Herrschaft des Gesetzes sind beide Seiten bereit, um das lieben Friedens Willen die glaubwürdigkeit Ihrer Volksvertretungen über Bord zu werfen. Für den Moment jedenfalls. Peace in our times, wenn man so will. All die Kleinigkeiten und Besonderheiten außeinander zu dividieren wird deprimierend viele Menschen in EU und VK noch für Jahre beschäftigen.
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