Ich hab an anderer Stelle gelesen, dass mit dem EU-UK-FTA VK praktisch dieselben Vorteile hätte wie Norwegen und die Schweiz, ohne deren Nachteile. Wenn ich ehrlich bin, ich sehe das nicht: Alle möglichen Reibungspunkte beim grenzüberschreitenden Handel, denen die EEA-Länder nicht unterliegen, gelten jetzt für VK. Die Zollfreiheit ist der einzige Punkt, den sie gemeinsam haben.
Zugang zu den Sozialsystemen für Geschäftsreisende und Delegierte ist anscheinend geklärt: Jede Person zahlt weiterhin in das nationale System des Heimatlandes ein und wird aus dem nationalen System des Gastlandes versorgt. Ob und wie Ausgleichszahlungen zwischen Systemen fließen ist anscheinend auch geklärt. Das ist mit Sicherheit ein positives Ergebnis.
Wie es aussieht, sind noch eine Menge Punkte offen. Wie wird man in Zukunft mit der gegenseitigen Anerkennung von Qualifikationen umgehen? Im Abkommen ist anscheinend ein “Rahmen” vorgesehen, aber das kann alles und gar nichts heißen. Zurzeit hat das VK keine benannten Stellen, um Sachverständige für Druckgeräte, Maschinen, etc. zu benennen. Das ist ein juristisches Problem, denn wenn sich eine Firma auf die Aussage eines Sachverständigen ohne anerkannte Qualifikation verlässt, dann hat sie im Falle eines Unfalls vor Gericht ganz schlechte Karten. Gleiches gilt für alle Arten medizinischer Profis, angefangen bei Ärzten, aber auch Krankenpfleger, Sanitäter, etc. Oder Wartungspersonal für sicherheitsgerichtete Systeme, Fluggerätemechaniker, etc. Das ist ein ganzes Buch voller Probleme, das bisher noch gar nicht aufgemacht wurde, das aber zu jeder Menge Reibung auf der jeweiligen Arbeitsebene führen wird. Das ist kein unlösbares Problem, aber wieder eins, das zeigt was passiert, wenn man Verträge, die eine komplizierte Welt zumindest ein bisschen einfacher machen verläst, ohne einen brauchbaren Ersatz dafür zu haben. Auch der gemeinsame Energiemarkt ist noch nicht wirklich geklärt und ob bzw. wie viel von Programmen wie Galileo und Erasmus ersetzt werden wird, steht auch noch in den Sternen. Oder der Luftverkehr. Überall ist von “Rahmen” und “grundsätzlichen Übereinkünften” die Rede, aber nichts Konkretes. Es wird Jahre dauern, das alles aufzulösen.
Egal von welcher Seite man jetzt den Vetrag betrachtet, über eines sind sich die vernünftigen Leute auf beiden Seiten völlig einig: Das Zustandekommen ist ein demokratischer Albtraum. Auf beiden Seiten entscheiden de facto die Regierungen, auf EU-Seite sogar de jure, ohne dass die Parlamente sinnvoll miteinbezogen werden. Das Britische Unterhaus, der eigentliche Souverän im VK, hat vier Tage Zeit die 2.000 Seiten Vertragsdokument durchzuarbeiten. Einige Gruppen (z.B. die ERG. Hätte nicht gedacht, dass ich mal mit denen übereinstimme, aber in der Frage haben sie recht) und Einzelpersonen haben sich zwar darüber beschwert, dass die Zeit viel zu knapp ist, erfahrungsgemäß wird es aber keine große Rebellion geben und die Unzufriedenen werden bestenfalls mit Enthaltung, nicht mit Gegenstimmen reagieren. Der Europarat hat auf Anraten der EU-Kommission beschlossen, den Vetrag vorläufig in Kraft zu setzen. Was weder ungewöhnlich, noch unsauber wäre, hätte das EU-Parlament im Vorfeld die Möglichkeit, sinnvoll seine Zustimmung zu geben. Aber dort hat man dasselbe Problem wie jenseits des Kanals: zu wenig Zeit. Der einzige Silberstreif hier ist, dass der Europrat in eigener Machtvollkommenheit nur solche Artikel das Abkommens zur Anwendung bringen kann, die alleinige EU-Kompetenzen betreffen und jedes EU-Mitglied entscheiden kann, ob es auf Gebieten mit geteilter Kompetenz, wie z.B. Transport, die entsprechenden Artikel umsetzt oder nicht. Außerdem ist die vollständige Ratifikation immer noch von der Zustimmung des Europaparlaments abhängig.
Nichtsdestotrotz fehlt für den Moment de facto total die parlamentarische Kontrolle. So werden die Parlamente auf beiden Seiten zu Stempelmaschinen degradiert und der demokratische Prozess ad absurdum geführt. Anstatt den selbst gegebenen Regeln zu folgen, hebelt man sie für einen filzigen Hinterzimmerdeal aus. Und all jene, die die EU für undemokratisch halten oder generell politikverdrossen sind, dürfen sich bestätigt fühlen. Mit dieser Entscheidung haben sowohl VK als auch (und ganz besonders!) EU ihren jeweiligen Populisten Munition für Jahre geliefert. Es wäre zwar möglich, dass das Europaparlament den Vertrag nachträglich ablehnt, allerdings glaube ich nicht, dass sich unter den Parlamentarieren genügend Aufrechte finden, einen ein Mal akzeptierten Vertrag nachträglich noch zu kippen.
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