Das Kernkraftwerk Saporischschja ist das Größe seiner Art in Europa und besteht aus sechs Blöcken mit einer installierten Gesamtleistung von etwa 6 Gigawatt, die zwischen 1985 und 1996 in Betrieb gingen. Es sind sämtlich Reaktoren Typ WWER-1000, also Druckwasserreaktoren sowjetischer bzw. russischer Bauart. Das ist schon mal ein ganz wichtiger Punkt, denn im Gegensatz zu den Druckröhrenreaktoren vom Typ RBMK-1000 in Tschernobyl reagieren WWER wie ihre westlichen Pendants deutlich ‘gutmütiger’ auf Störungen. Insbesondere ist keine nukleare Exkursion wie in Tschernobyl möglich. Außer den Reaktoren gibt es noch ein trockenes Brennelementelager und ein Abklingbecken für bestrahlte Brennelemente.
Allen Anschein nach ist die ukrainische Armee nach einer einige Wochen dauernden Phase der Vorbereitung jetzt zur Offensive angetreten. Der Kachowka-Staudamm, der den Unterlauf des Dnipro zu einem Stausee aufstaut, wurde zerstört und eine der schlimmsten wirtschaftlichen und möglicherweise die schlimmste ökologischen Katastrophe der jüngeren europäischen Geschichte ausgelöst. In beiden Zusammenhängen, der Offensive im Allgemeinen und der Zerstörung des Staudamms im Besonderen, wird gerade jetzt wieder über das Risiko gesprochen, das vom Kernkraftwerk Saporischschja ausgeht. Das Kraftwerk ist seit etwa Anfang März 2022 von russischen Truppen besetzt und wird möglicherweise Ziel ukrainischer Operationen werden. Dass die russische Armee es freiwillig preisgibt ist nicht wahrscheinlich. Die Kühlwasserversorgung wird durch Wasser aus dem Dnipro sichergestellt. Durch den Dammbruch ist sie möglicherweise gefährdet. Die Frage ist also: welche Gefahr geht von diesem Kernkraftwerk aus?
Zunächst zur Offensive. Zurzeit verdeckt der Nebel des Krieges die Ereignisse an den Fronten. Nicht mal auf den Telegram-Kanälen der bekannten russischen Mil-Blogger wie Rybar oder Grayzone finden sich viele Informationen. Die ukrainische Seite schafft es wieder, wie nach den Operationen um Charkiw und Kherson, eine weitgehende Nachrichtensperre durchzusetzen. Heute, am 07.06.2023, kann ich mir noch überhaupt kein Bild machen. Ob und in welchem Umfang das Kraftwerk Ziel ukrainischer Truppenbewegungen ist, ob und wie die russische Armee es verteidigen will ist beides schwierig abzuschätzen. Der Faktor Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit durch Kampfhandlungen ist Stand heute unmöglich zu bestimmen.
Das Schadensaußmaß, das von den Einrichtungen auf dem Kraftwerksgeländes ausgeht, hängt stark von ihrem Zustand am Ende der Kämpfe ab, aber noch stärker von der Wasserversorgung, die durch den Bruch des Kachowka-Damms für die unmittelbare Zukunft stark gefährdet erscheint. Die sechs Kernreaktoren sind seit September 2022 außer Betrieb. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht noch in einen gefährlichen Zustand kommen können. Ein Kernreaktor im Betrieb erzeugt thermische Energie durch Atomkernspaltung. Wenn ein Atomkern gespaltet wird, bleiben Spaltprodukte übrig, die wesentlich radioaktiver sind als der ursprüngliche Kernbrennstoff. Durch den Zerfall dieser Kerne entsteht die Nachzerfallswärme, die den Reaktor noch für lange Zeit so stark erwärmt, dass er aktiv gekühlt werden muss. In den ersten Minuten nach Ende der Kettenreaktion fällt die Nachzerfallswärme sehr stark ab. Nach 1 Stunde beträgt sie nur noch 1 % der ursprünglichen Reaktorleistung. Bei einem WWER mit 3.000 MW thermischer Leistung also 30 MW. Bis die Leistung auf 0,1 % abgefallen ist, vergeht schon mehr als ein Monat. Dann erzeugt der Reaktor immer noch 3 MW. Nach 9 Monaten ist die Nachzerfallswärme auf etwa 0,03 % der ursprünglichen Leistung gefallen. Für die WWER in Saporischschja beträgt sie stand heute als etwa noch 1 MW. Nächstes Jahr um diese Zeit werden es noch etwa 900 kW sein. Die Nachzerfallswärme ist zwar zum Großteil abgeklungen, sie sinkt aber jetzt nur noch sehr langsam. Ähnliches gilt für die Abklingbecken, in denen bestrahlte Kernbrennstoffe unter Wasser gelagert werden, bis sie soweit abgeklungen sind, dass man sie in Transport- oder Lagerbehälter umladen kann.
Um einen Begriff davon zu bekommen, was das heißt: 1 MW thermische Leistung ist ein Haufen Kohle von der Größe einer Doppelgarage, der brennt und der sofort wieder anfängt zu brennen, wenn er nicht kontinuierlich gelöscht wird. 1 MW thermische Leistung wird nicht ausreichen, um den Reaktordruckbehälter zu zerstören, dafür geht zu viel Wärme über seine Oberfläche verloren, aber möglicherweise Einbauten und Brennelemente bis zum wirtschaftlichen Totalschaden beschädigen. Wenn wir den Reaktor kühlen wollen, zum Äußersten gehen und erlauben, dass sich das 20 °C warme Kühlwasser aus der Wärmesenke bis zum Siedepunkt, also um 80 K erwärmt, müssen wir einen Durchfluss von etwa 11 m³/h Wasser sicherstellen. Das ist nicht nichts, aber auch nicht gigantisch viel. Wenn wir auf Nummer sicher gehen und weniger als 80 K Temperaturerhöhung in Kauf nehmen wollen, muss der Durchfluss entsprechend steigen.
Um die sechs Reaktoren zu kühlen braucht man als absolutes Minimum einen Durchfluss von etwa 60 m³/h. Das ist nicht viel, wenn man es aus dem nahen See entnehmen kann. Auch die zehnfache Menge ist für eine Industrieanlage dieser Grö0e locker machbar. 60 m³/h sind aber schon ordentlich, wenn sie über Rohrleitungen heranführen muss. Umso mehr als diese Rohrleitung im Gefechtsfeld liegt. Die IAEA geht in einem gestern veröffentlichten Statement davon aus, dass aus dem Kachowka-Staudamm kein Wasser mehr entnommen werden kann, wenn der Pegel unter 12,7 m fällt. Das Szenario, dass die Reaktoren kurzfristig trockenfallen ist real und realistisch. Sie werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht katastrophal versagen, aber wahrscheinlich technisch und wirtschaftlich zerstört werden.
Viel problematischer sind aber die Abklingbecken, denn im Gegensatz zu dem bestrahlten Kernbrennstoff im Reaktordruckbehälter oder dem Trockenlager werden die Brennstäbe, die dort gelagert werden, nicht durch viele Zentimeter Stahl von der Außenwelt abgeschirmt. Die Gebäude, die sie umgeben, sind keine Containments. Sie sind nicht dafür ausgelegt, Radioaktivität, die aus den Becken großflächig austritt, zurückzuhalten. Wenn die Abklingbecken trockenfallen, kann es zur Zerstörung der Brennelemente und Freisetzung großer Mengen Radioaktivität in die Atmosphäre kommen. Mit möglicherweise katastrophalen Folgen. Die IAEA übertreibt nicht, wenn sie den Ernst der Lage beschwört. Die Lage ist ernst.
Allerdings wäre es falsch, von einer Katastrophe Tschernobyl’schen Ausmaßes zu sprechen. So schlimm würde es selbst im schlimmsten Fall nicht kommen. Das radioaktive Inventar ist viel kleiner, die spezifische Aktivität niedriger, in Tschernobyl wurden durch das Feuer im Reaktorkern Spaltprodukte hoch in die Atmosphäre getragen und weit verteilt. Die Gefahr, die von Saporischschja ausgeht, ist lokal begrenzt, wobei lokal einige zehn Kilometer heißen kann. Panik in Mitteleuropa ist nicht angebracht. Es sind die Menschen vor Ort, die vor einer existenzbedrohenden Situation stehen.
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