Es ist ein düsteres Bild, das der Scientific American vom Baufortschritt des größten Kernfusionsexperiments der Welt zeichnet. Von Kostenexplosionen ist die Rede, immer wieder verschobenen Terminplänen, Ratlosigkeit bei den Verantwortlichen, einer ungewissen Zukunft.
Die Kritik ist berechtigt. Als das Projekt ITER im Jahre am 28. Juni 2005 formal auf den Weg gebracht wurde, ging man von Kosten von 5 Milliarden Euro und einer Bauzeit von etwa 10 Jahren aus. Das erste Plasma sollte 2016 erzeugt werden, den Break-Even-Point der Kernfusionsreaktion (das ist der Punkt an dem die Kernfusionsreaktion mehr Energie freisetzt als zu ihrer Aufrechterhaltung notwendig ist) strebte man für 2018 an. Aus damaliger Sicht ein ehrgeiziges Vorhaben, aus heutiger Sicht erscheint es utopisch. Die Verantwortlichen von damals, so sie noch am Leben sind, müssen sich heute die Frage gefallen lassen, wie man sich derart verkalkulieren konnte. Dass eine vorher in dieser Dimension nie gebaute Forschungsanlage teurer wird als zunächst veranschlagt und ihr Bau länger dauert ist vorhersehbar und im ersten Moment nicht ehrenrührig. Hubble und der LHC haben auch deutlich mehr gekostet, als zunächst veranschlagt. Allerdings nicht so viel mehr und es hat nicht so viel länger gedauert.
Laut Scientific American geht man zurzeit von Kosten in Höhe von 20 Milliarden € aus. Die Inbetriebnahme wird für 2025 erwartet. Das ist satt. Und möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs. Dokumente, die Scientific American über eine FOIA-Anfrage erhalten hat, legen nahe, dass innerhalb der ITER-Organisation niemand wirklich eine Vorstellung davon hat wie viel es kosten wird und wie lange es dauert. Dafür ist von nicht näher spezifizierten technischen Problemen die Rede, die weitere Kostensteigerungen und Verzögerungen mit sich bringen. ITER scheint auf dem besten Weg, das teuerste wissenschaftliche Projekt der Geschichte zu werden und gleichzeitig das mit der längsten Bauzeit.
Die Öffentlichkeit, die das alles bezahlt, hat ein Recht darauf zu erfahren, woran es denn liegt. Bereits im Jahr 2012 berichtete Scientific American über Verzögerungen und Kostensteigerungen, die sich aus den technischen Problemen und der barocken (ein schönes Adjektiv an dieser Stelle) Struktur der ITER-Organisation ergeben. Außerdem scheint es, als sei das Projekt von Anfang an gesundgebetet worden. Initiale realistische Kostenschätzungen sollen von 10 Milliarden € ausgegangen sein. 1998 verließen die USA deshalb das Projekt und traten erst 2003 wieder bei, nachdem die Kostenschätzung halbiert wurde. Ich glaube, auch ohne jede Erfahrung im Anlagenbau, bekommt man bauchweh, wenn man so was hört. Es ist kein Wunder, dass unter diesen Bedingungen die Basisplanung nicht sorgfältig genug durchgeführt wurde. In den letzten Jahren gab es Berichte über diverse Probleme beim Bau, so z.B. Baugruppen, die nicht zueinanderpassen, Probleme mit Schweißnähten und Leckagen bei Vakuumtests. Besonders pessimistisch liest sich ein Paper, das in Nature veröffentlicht wurde und potential massive Probleme im grundsätzlichen Design diskutiert.
Aber das ist noch nicht alles. Die ITER-Organisation als internationales Joint Venture hat inheränterweise gewisse Besonderheiten. Ich habe schon in Joint-Ventures gearbeitet und meiner Erfahrung nach, von einem Engineering- bzw. Engineering-Management-Standpunkt betrachtet, sind sie die Pest. Das Verhältnis der Mannschaften sei noch so kollegial, die Expertise auf allen Seiten noch so hoch, der gemeinsame Wille zum Erfolg noch so groß; in dem Moment, in dem verschiedene Philosophien aufeinander treffen beginnen die Probleme. Um jede Entscheidung wird gestritten, mit harten Bandagen. Techniker auf allen Seiten tun sich schwer, bekannte und bewährte Konzepte auf Wunsch der Partner zu verändern, Geräte einzusetzen, mit denen sie keine Erfahrung haben, Strukturen und Organisationen zu schaffen, die sie nicht kennen. Das ist menschlich und nicht trivial. In einer Organisation, in der verschiedene Länder mit divergierenden Interessen um Einfluss ringen, breiten sich Probleme zusätzlich noch in die politische Dimension aus. Da geht es um die Beschaffung der Baugruppen, die Beauftragung von Firmen, das Hin- und Herschieben von Geldern, die Besetzung von Führungspositionen, die Schaffung von Standards und viele andere Dinge mehr. Die eigentlichen technischen Herausforderungen kommen noch oben drauf.
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