Die neuen Reaktoren haben im Mittel Blockleistungen von etwa 1.100 MW. Auf den ersten Blick ist das, unter Vernachlässigung von Sondereffekten, ein großer Zubau. Allerdings tut sich mir da eine Frage auf, der zwei Beobachtungen zugrunde liegen:
1. Ein abgeschriebenes Kernkraftwerk sollte für den Betreiber eine Gelddruckmaschine sein. In allen Kalkulationen und frei zugänglichen Dokumenten wird betont, dass der bei weitem größte Teil der Stromgestehungskosten auf den Bau der Anlage entfällt. Der nächstgrößere ist der Rückbau, Betriebskosten und Brennstoff machen nur einen kleinen Teil aus. Abgeschriebene Kraftwerke sind per Definition bezahlt.
2. Kaum eine Aufsichtsbehörde auf der Welt verweigert Laufzeitverlängerungen. Es gibt mittlerweile viele Beispiele für Anlagen, die über 40 Jahre hätten weiterbetrieben werden dürfen und nur ein paar wenige, z.B. Thiange-1 und Doel-1 und -2 in Belgien (aber die Klammern wir aus, weil Belgien den Kernenergieausstieg beschlossen hat und oben deswegen nicht mit betrachtet wurde), bei denen die Behörde den Weiterbetrieb verweigert oder bei denen es, wie bei Diablo-Canyon-1 und -2 in den USA zu größeren Diskussionen zwischen Betreiber und Behörde kam (bevor die Verlängerung bewilligt wurde).
Von den großen Anlagen, die in den letzten zehn Jahren vom Netz genommen wurden, hatten einige noch nicht die 40 Jahre erreicht. Warum werden Anlagen in kernergiefreundlichen Ländern vom Netz genommen, die zumindest prinzipiell weiterbetrieben werden könnten?
Anderes Detail: Das PRIS liefert für die letzten 20 Jahre für die Neubauten folgendes Bild: Bis 2010 steigt deren Zahl pro Jahr an. Dann, nach der Katastrophe von Fukushima, sinkt sie rapide ab, steigt bis 20213 wieder an; es folgt ein Auf und Ab bis 2020 und seitdem ist sie wieder gesunken. Was könnte das bedeuten?
Seit rund zehn Jahren gibt es das Konzept der Small Modular Reactors, aber wirklich viel passiert ist seither nicht und ich mache keinen Hehl daraus, dass ich nicht so recht an ihren Siegeszug glauben kann. das Ponton-Kraftwerk Akademik Lomonossow ist zurzeit das einzige seiner Art auf der Welt, das ich so bezeichnen würde und auch das wurde nicht als SMR geplant, sondern wird im Nachhinein so genannt, weil es sehr nahe am ursprünglichen Konzept ist. Manche Anlagen, wie der chinesische HTR-PM, werden oft dazugezählt, aber in meinen Augen ist die Bezeichnung von Kraftwerken der 300-MW-Klasse als SMR vor allem ein Werbeversprechen. Sie sind nicht modularer oder weniger modular als große Leistungsreaktoren, nur kleiner. Technisch modern, aber konzeptionell nicht unähnlich den Reaktoren der späten ersten und frühen zweiten Generation, die Ende der 1950er bzw. 1960er Jahre gebaut wurden. Vom eigentlichen Ziel der fabrikmäßigen Produktion einer Standard-Anlage im Sinne einer Package Unit sind sie weit entfernt. Wie wird es an dieser Front weitergehen?
Eng mit der SMR-Entwicklung verknüpft ist das wieder aufblühende Interesse an Konzepten wie Thorium-Nutzung, Flüssigmetallkühlung, Salzschmelze-Reaktoren und gesteigerten Temperaturen. das Advanced Reactor Information System ARIS der IAEA weist neben den Druck- und Siedewasser-Reaktoren neun fortschrittliche Konzepte aus. Allesamt interessant, aber allesamt auch schon mal dagewesen und mit ihren ganz eigenen Herausforderungen behaftet. Zurzeit dominiert aus guten Gründen bei Neubauten mit weitem Abstand der Druckwasser-Reaktor. Wird sich daran in der nahen Zukunft (bis ca. 2035) etwas ändern?
Im Zuge der immer sichtbarer werdenden Konsequenzen des Klimawandels und vor allem im Kielwasser des russisch-ukrainischen Krieges und der Sorge um die Energieversorgung ist das Interesse an Kernkraftwerken in vielen Ländern deutlich gestiegen. Das Vereinigte Königreich und Frankreich haben unter den Europäischen Nationen die größten Ankündigungen gemacht und sie stehen damit beileibe nicht allein. An Ankündigungen ist die Geschichte der Kernenergie allerdings deutlich reicher als an realisierten Anlagen. Was wird, eingedenk der realen Kosten- und Terminüberschreitungen von Flamanville, Olkiluoto und Hinkley Point C, in zehn Jahren wirklich neu auf den Weg gebracht worden sein?
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